Fall Nr. 33

 

Völkerball

Schlüsselsatz: "Aber sie haben selbst gesagt, dass Kopftreffer nicht zählen!"
Stufe: Primarstufe
Bewegungsfeld: Spielen
Disziplin/Sportart: Völkerball
Inhalte präsentieren: Erklären | Spielen und Wettkämpfen
Textsorte: Didaktischer Text

Fallbeschreibung:

20 SchülerInnen aus einer 5. Klasse Primar. Davon 7 Mädchen. Niemand in der Klasse hat Angst vor dem Ball, obwohl einige der Knaben sehr hart werfen können. Alle können werfen und fangen.
Als Abschluss der letzten Doppellektion (2o min. vor Schluss) lasse ich die Schüler eines ihrer Lieblingspiele spielen. Und sie wünschen fast alle Völkerball. Pro Mannschaft hat es zehn SchülerInnen (je acht in ihrem Feld, "auf der Erde" und zwei im "Himmel"). Die zwei Teams werden so gebildet, dass sie in eine Reihe stehen und auf vier durchnummerieren müssen. Alle 1 und 2 bilden eine Mannschaft und alle 3 und 4 die andere.
Vor dem Spiel versammeln sich alle im Kreis und ich will wissen, mit welchen Regeln sie Völkerball bis anhin gespielt haben. "Zwei sind im Himmel und die anderen im Feld!" sagt Melanie. "Und wenn nur noch einer im Feld ist, dann dürfen die zwei aus dem Himmel noch ins Feld!"
"Einfach abknallen!" gibt Philipp auf meine Frage, wie sie einander geben dürfen, zur Antwort. Ich stelle zusätzlich auch noch Regeln auf: Der Ball muss zuerst 3x übergeben werden, und jedes mal muss der Ball gefangen werden, bevor mit dem Abtreffen begonnen werden darf! Sie müssen den Ball vor jedem gültigen Treffer gefangen haben! Doch die Schülerinnen sind nicht so begeistert von diesen Regeln: "Das haben wir bis jetzt nicht so gemacht!" "Das ist ja saublöd! Aber auf meine Frage nach der Begründung für ihr Murren, fällt ihnen auch nichts ein und so müssen sie die Regeln akzeptieren!
Alle stehen auf und verteilen sich auf ihre Positionen und ich stelle noch eine weitere Forderung in den Raum: "Kopftreffer zählen nicht! Auf den Kopf zielen ist verboten!"
Das Spiel beginnt auf mein Startzeichen! Die erste Runde wird mit nur einem Softball gespielt und dieser Durchgang verläuft ohne grössere Zwischenfälle. Doch kaum hat der zweite Durchgang, dieses Mal mit zwei Softbällen, begonnen, da höre ich auch schon Kevin rufen: "Fipu du must in den Himmel. Ich habe dich getroffen!" Philipp schreit:"Nein, du riesen Arsch! Du hast mich am Kopf getroffen und Kopftreffer zählen nicht, das hat Frau Gerber gesagt!" "Sicher zählt das, du Doofmann hast dich nur geduckt, dass dir der Ball extra an den Kopf geht, weil du nicht fassen kannst. Du Pfeiffe!" gabe Kevin zurück. Das ist für Philipp zuviel und er geht ins gegnerische Feld und türmt sich vor Kevin auf, immer noch fluchend. Kevin schreit: "Du bist selber schuld! Du musst jetzt in den Himmel. Ich kann nichts dafür!"Nein, du kannst ja nichts anderes als unfair spielen!" Philipp schupst Kevin etwas und so gibt Kevin mit einem Box zurück. Sie liegen sich in den Haaren und raufen sich. Bis ich komme und sie auseinander nehme, was nicht gerade leicht geschieht! Ich schicke Philipp in den Himmel, was er nicht versteht: "Aber sie haben selbst gesagt, dass Kopftreffer nicht zählen!" Ich sage, dass ich es nicht gesehen habe, und ich der Schiedsrichter sei und so zu Gunsten der schwächeren Mannschaft, im Moment ist es die von Kevin, entscheide.
Ich lasse weiterspielen, bis Christoph zu mir kommt und sagt: Jasmin wurde getroffen, aber sie geht nicht in den Himmel. Das ist unfair!" Doch schon wie vorhin habe ich die Situation übersehen! Ich gehe trotzdem zu Jasmin und mache sie darauf aufmerksam, das sie das nächste Mal in den Himmel gehen muss, wenn sie gegeben wird.
Es vergehen zwei Minuten und sie wird getroffen. Sie schaut zu mir, um zu sehen, ob ich den Treffer bemerkt habe. Ich habe ihn gesehen und winke sie zum Himmel, wohin sie sich auch begibt. Nach weiteren fünf Minuten ist das Spiel zu ende und alle gehen in die Umkleidekabinen. Philipp kommt noch bei mir vorbei und sagt: "Das ist wirklich unfair! Sie geben die Regel vor und dann befolgen wir sie trotzdem nicht. Wozu war dann diese Regel? Da kann man ja geradezu ohne Regeln spielen, wie wir es bis jetzt gemacht haben!"


Fallinterpretation:
An oberster Stelle steht das Fair-Play unter den SchülerInnen und ein faires Behandeln jedes einzelnen Schülers durch den Lehrer! Die Schüler sollen ehrlich den Kameraden und sich selber gegenüber sein! D.h., wenn sie getroffen werden, so sollen sie auch die entsprechende Konsequenz ziehen, jetzt im Falle des Völkerballs, in den Himmel gehen, und nicht erst auf Verlangen der anderen oder sogar des Lehrers!
Die SchülerInnen sollen Regeln, welche vom Lehrer aufgestellt werden, ohne zu murren akzeptieren! Das heisst aber nicht, dass der Lehrer die Regeln selbst macht, die Schüler sollen auch die Möglichkeit haben, den Unterricht mitgestalten zu können!
Das Spiel Völkerball ist eigentlich gar kein Spiel! Es ist nur ein Abknallen des Gegners! Fast ein kleines Kriegsspiel mit Ausrottungsziel des Feindes! Somit ist dieses Spiel eigentlich nicht geeignet für die Schule! Doch das tragische ist, dass es SchülerInnen (eher Knaben) immer wieder als Lieblingspiel angeben und spielen wollen. Woher mag das wohl kommen?
Problem:
Doch das Problem begann eigentlich schon viel früher. Als mir in den Sinn kam, dass Kopftreffer vermieden werden sollten, weil es ziemlich schmerzen kann. Der Fehler ist, dass ich diese Regel, dass die Treffer am Kopf nicht zählen, einfach noch so schnell in die Runde warf, wobei die Schüler schon alle aufgestanden waren und sich entfernt hatten. So konnten nur noch die SchülerInnen, welche in meiner Nähe waren, meine Worte hören. Und Philipp war in dem Fall bei diesen.
Im ersten Spiel merkte ich dass es mit einem Softball gar nicht so gefährlich war, wenn die SchülerInnen getroffen wurden. Und so vergass ich die Regel. Ich hoffte insgeheim, dass niemand am Kopf getroffen würde.
Beim Vorfall im zweiten Spiel, als Philipp am Kopf getroffen wurde, habe ich die Übersicht über das Spiel ein bisschen verloren und ich war der Meinung, dass das Spiel auch ohne mich läuft. Deshalb kam es beim Entscheid, ob Philipp in den Himmel muss oder nicht zum Problem, weil ich es nicht selbst gesehen hatte. Sollte ich zugunsten von Philipp oder zugunsten des schwächeren Teams entscheiden?
Auch bei Jasmin hatte ich den Treffer nicht gesehen. Wie sollte ich hier entscheiden? Eigentlich bin ich der Meinung, dass sich die SchülerInnen nicht gegenseitig verpfeifen sollten. Wem sollte ich jetzt hier Recht geben?


Nach der Regelbesprechung vor dem Spielbeginn hätte ich gerade noch einmal alle zusammennehmen sollen und fragen sollen, wie sie es mit Kopftreffer handhaben. Dann hätten alle genau gewusst, wie sie sich als Werfer und als Getroffene verhalten müssen. Und beim Kopftreffer von Philipp wäre es auch Kevin klar gewesen, dass Philipp nicht in den Himmel musste und dass er nicht einfach drauflos werfen konnte, ohne genau zu zielen! In diesem Sinne sollte das exakte Zielen geübt werden, damit die SchülerInnen, wenn sie auf z.B. auf die Beine zielen, auch diese treffen. Doch im Spiel ist dies sehr schwierig, da alle in Bewegung sind und vielleicht einmal am Kopf getroffen werden, obwohl der Werfer auf die Brust geziehlt hat. So wird es auch bei Kevin und Philipp der Fall gewesen sein.
Sicherlich hatte Kevin meine Regel nicht gehört, denn sonst hätte er nicht so reagiert und mit Nachdruck darauf bestanden, dass Philipp in den Himmel sollte. Dann hätte er sich entschuldigt und weitergespielt.
Was mir erst nachträglich als logische Möglichkeit erschien war die Aussage von Kevin: "... du Doofmann hast dich nur geduckt, dass dir der Ball extra an den Kopf geht." So könnte dies auch ein cleverer Spielzug von Philipp gewesen sein, dass er sich einfach geduckt hat, damit ihm der Ball an den Kopf prallt. Dies sollte aber für Kevin kein Grund sein so aufzubrausen und auszurasten. Klar ist, dass Philipp meine Regel gehört hat, denn sonst wäre er nicht zu mir gekommen und hätte sich beschwert. Für ihn war offensichtlich klar, dass wenn ich eine Regel vorgeben, ich diese auch anwende (Was ich ja auch hätte tun sollen).
Zu diesem Zeitpunkt hätte ich das Spiel unterbrechen müssen und diese Regel mit den Schülerinnen im Plenum besprechen sollen! Das Beispiel von Philipp wäre ein guter Grund für eine Diskussion gewesen. Nach neuer Festlegung oder Abschaffung dieser Regel und nach der Diskussion mit den Kindern, was mit Philipp passieren sollte, hätte ich dann weiterspielen lassen können.
Oder ich hätte sie am Schluss, bevor sie in die Umkleidekabinen gingen, zusammenrufen sollen und das ganze Problem dieser und anderer Regeln besprechen sollen. Und somit diese Rauferei klären sollen, statt sie ohne Worte in die Garderoben zu schicken. Damit wäre wenigstens die Situation geklärt gewesen. Oder ich hätte das Thema Fair-Play im Zusammenhang mit der Situation von Jasmin diskutieren können.
Damit muss ich das ganze Problem auf meine Kappe nehmen. Denn ich habe diese Regeln nicht korrekt eingeführt, selber nicht befolgt und nicht mit den Schülerinnen im Verlauf des Spiels geklärt.
Allgemeine Aussagen:
Die wichtigsten Regeln sollten immer vorher überlegt werden, damit auch keine vergessen wird. Wenn neue Regeln eingeführt werden, so muss das Spiel unterbrochen werden und so geregelt werden, dass auch der Hinterste und Letzte diese gehört und verstanden hat. Dies verlangt aber auch, dass "sowenig Regeln wie möglich und so viele wie nötig" aufgenommen werden. Jede zusätzliche Regel schränkt das Zufallsmoment des Spiels ein und nicht selten sind viele Regeln ein Killer der Spannung. Nichts ist so veränderbar wie eine Spielregel!
Weiterführende Fragen entwickeln:/erneut didaktischen Zirkel anwenden.
Ich könnte noch nach der Ursache fragen, wieso mir diese Regel überhaupt in den Sinn gekommen ist! Was das Abwurfspiel betrifft, bin ich sehr vorsichtig und ein bisschen ängstlich geworden, denn ich möchte jede Gefahr eines Unfalles vermeiden können. Ich weiss noch aus meiner Schulzeit, wie hart die Knaben werfen können und wie das geschmerzt hatte, je nachdem wo man getroffen wurde. Ein Beispiel aus der 7. Klasse blieb in meinem Gedächtnis haften, als ein Mitschüler, auch beim Völkerball, mit einem Volleyball ein "volles Rohr" an den Kopf einer Kollegin geworfen hatte. Sie war so ungeschickt getroffen worden, dass sie kurze Zeit das Bewusstsein verlor und zur Kontrolle zum Arzt musste.
Ich könnte noch nach der
andere Fragen:
Völkerball ist gar kein Spiel. Aus ethischen Gründen finde ich Völkerball ein sinnloses und gefährliches Spiel. Die Grundform des Völkerballs hat grosse Nachteile: Es besteht die Gefahr, dass die gewandteren Spieler den Spielverlauf beherrschen, während die Wurfschwächeren und ängstlichen SchülerInnen sich passiv in die Spielfeldecken und an die Seitenlinien drängen oder unbeteiligt im Aussenfeld herumstehen. Doch dies war in meiner Praktikumsklasse nicht der Fall. Es hatte niemand, der Angst vor dem Ball hatte und immer vor ihm flüchtete. Doch die Knaben hatten eher härtere Würfe, welche die Gegner unter keinen Umständen hätten fangen können. Doch Völkerball ohne Abschiessen oder ohne Ball ist fast unvorstellbar. Deshalb sollte man als SportlehrerIn Varianten finden, die weniger brutal und weniger agressiv sind.