Fall Nr. 93

 

Stell dich nicht so an!

Schlüsselsatz: Stell dich nicht so an!
Stufe: Sekundarstufe I
Bewegungsfeld: Schwimmen
Spezielle Themen: Sicherheit
Textsorte: Didaktischer Text

Fallbeschreibung:

Sportunterricht in einer 7. Klasse einer Realschule. Der Sportunterricht findet koedukativ statt. Die Klasse hat eine Doppelstunde Schwimmen.
In der Schwimmhalle auf die Schüler wartend, fordert der Lehrer die nach und nach eintreffenden Schüler auf, sich auf die Fensterbank zu setzten. Zwei Schüler erscheinen noch angezogen vor dem Lehrer.
Die eine Schülerin gibt dem Lehrer eine Entschuldigung, woraufhin sie sich zu den anderen setzt und wartet. Der andere Schüler scheint keine Entschuldigung zu haben, bittet den Lehrer aber, nicht am Schwimmunterricht teilnehmen zu müssen. Der Schüler ist stark übergewichtig. Er wirkt nervös. Auf die Frage des Lehrers, ob er nun Schwimmzeug dabei habe oder nicht, bejaht er dies, bittet aber nochmals, nicht mitmachen zu müssen. Der Lehrer antwortet daraufhin lediglich, er solle sich nicht so anstellen und sich endlich umziehen und mitmachen.
Daraufhin zieht sich der Schüler dann ebenfalls um und nimmt am Schwimmunterricht teil. Während des Unterrichtes muss er sich viele Hänseleien aufgrund seines Gewichtes anhören, die mal mehr oder weniger laut erfolgen. Es wurde z.B. laut gelacht und auf ihn gezeigt, als er an den Schülern vorbeiging oder es wurden Sprüche gerufen wie „Rettet die Wale“ oder „Geht in Deckung“ bei einem Kopfsprung seinerseits. Weiter wurde er als Schwabbel und Fettwanst tituliert. Der Lehrer ignoriert dies und greift nur ein, wenn ein Überhandnehmen des Hänselns die Klasse zu sehr ablenkt und der Unterrichtsverlauf durch einen zu hohen Lärmpegel gestört wird.
In den folgenden drei Schwimmunterrichtseinheiten nimmt der Junge nicht mehr am Unterricht teil, sondern sitzt mit einer Entschuldigung am Rand.


Fallinterpretation:
Das Schamthema unter sicherheitspräventiver und sportpädagogischer Betrachtung;
Der übergewichtige Knabe schämt sich offensichtlich, sich in den Badehosen den Klassenkameraden präsentieren zu müssen. Er vermutet oder weiss bereits aus Erfahrung, dass er gehänselt und ausgelacht wird, was ihn demütigt. Er versucht deshalb, sich der beschämenden Lernsituation zu entziehen, indem er den Lehrer bittet am Schwimmunterricht bekleidet am Bassinrand teilnehmen zu dürfen.
Der Lehrer geht nicht auf die Bitte des Knaben ein und verlangt seine aktive Teilnahme am Schwimmunterricht. Prompt wird der Knabe zur Zielscheibe von demütigenden Bemerkungen. Der Lehrer ignoriert die psychophysische Belastung des „gefoppten“ Knaben und greift nur ein, um die Aufmerksamkeit der Schüler sicher zu stellen und den Lärmpegel zu regulieren.
Der übergewichtige Knabe findet über eine akzeptierte Entschuldigung in den kommenden Schwimmstunden einen legalen Weg, sich der psychophysisch schmerzhaften Lernsituation durch Absenz zu entziehen. Scham ist ein so intensives, brennendes Gefühl, dass die Selbstsicherheit eines Pubertierenden langfristig beeinträchtigt werden kann.
Durch die nun entschuldigte Absenz vom aktiven schulischen Schwimmunterricht kann der übergewichtige Knabe auch nicht mehr vom für ihn in dieser Entwicklungsphase wichtigen, gesundheitsförderlichen Sportunterricht profitieren.


Empfehlungen;
Gerade im Wasser hätte der übergewichtige Knabe mit der nötigen sozialen Zuwendung und mit angepassten schwimmtechnischer Übungen günstige Voraussetzungen, „seinen individuellen sportiven Bewegungsraum“ zu erkunden und sich sicher zu fühlen. Die regelmässige physische Belastung durch Wassersport (Wassergewöhnung, Wasserspiele, Schwimmen, Aqua-Jogging, Wasserball) könnte den übergewichtigen Knaben im Aufbau eines positiven Körperbildes unterstützen und seiner gesamten Identitätsentwicklung dienen. Dazu braucht es ein kooperatives und tolerantes Lernklima, das die grösste gesundheitsfördernde Wirkung in der Sekundarstufe I zeigt. (vgl. J.C. Vuille, 2004)
Bezüglich der Sicherheit im Wasser lassen sich bereits in der Vor- und Primarschule auch bei bewegungseingeschränkten oder bewegungsbehinderten Kindern zum Beispiel durch die Halliwik-Methode von Mac Millan deutliche Fortschritte in der Wassergewöhnung, Wasserbeherrschung und in angewandten Schwimmtechniken erzielen. (vgl. www.halliwick.ch)
Das Zehnpunkte Programm umfasst:
1. Geistige Anpassung an die Verhältnisse im Wasser
2. Loslösen, selbständig werden
3. Aufsitzen – Hinlegen (Transversale Rotationskontrolle)
4. Sagittale Rotationskontrolle
5. Drehen über die Seite (Longitudinale Rotationskontrolle)
6. Kombinierte Rotationskontrolle
7. Spüren und Ausnützen des Auftriebs
8. Gleichgewichtskontrolle in Ruhe
9. Gleiten auf dem Wasser
10. Elementare Schwimmbewegungen &
der erste Schwimmstil häufig in Rückenlage
Durch die sorgfältig erlernte Körperbeherrschung im Wasser ist der Zugang zu weiterführenden Wassersportarten im Schwimmunterricht in der Sekundarstufe I deutlich erleichtert. Für übergewichtige Kinder und Jugendliche kann sich so eine sportive Türe öffnen, die auch die spätere soziale Integration z.B. in eine Wasserballmannschaft ermöglicht.


Orientierungshilfen: www.bfu.ch
Unterrichtsblätter zur Sicherheitsförderung Safety Tool Nr. 3
Wasser-Sicherheits-Check WSC 6 - 8 Jahre
Bfu-Broschüre, Baden , Spass im Nass

Literatur;
Jean-Claude Vuille et al. (2004) Die gesunde Schule im Umbruch, Rüegger, Zürich

Empfehlungen / Beratung:
Fernand Firmin Dr. phil. Sportpädagoge und Sport Safety Coach im Auftrag der bfu, Klusstrasse 18, 3150 Schwarzenburg, Email; ferdy.firmin@bluewin.ch