Fall Nr. 72

 

Schwebebalken

Schlüsselsatz: "Ist dir langweilig?"
Stufe: Primarstufe
Bewegungsfeld: Bewegen an Geräten
Disziplin/Sportart: Balken und Stufenbarren
Inhalte präsentieren: Erklären
Textsorte: Didaktischer Text

Fallbeschreibung:

(a) 5.Schuljahr, Sekundarschule, 20 Schüler und Schülerinnen. Nach einem intensiven Aufwärmen versammelt die Lehrerin die Klasse in der Mitte der Halle. Sie erklärt den weiteren Verlauf der Stunde: Die Knaben turnen mit der Lehrerin am Stufenbarren während sie den Mädchen eine Aufgabe stellt: "Vielleicht habt ihr mal im Fernsehen Kunstturnerinnen auf dem Schwebebalken gesehen, wie sie verschiedene Kunststücke vorgezeigt haben. Die Turnerinnen gehen schön, drehen sich oder setzen sich auch mal auf den Balken. Sie machen auch Überschläge, aber das müssen wir nicht können. Nun, was ich von euch will ist, dass ihr jetzt gleich anschliessend zu dritt eine Langbank aufstellt und zwar mit der schlanken Seite nach oben und auch ein paar Matten. Probiert mal was ihr auf diesem Balken alles machen könnt?
(b) Die Mädchen machen sich bereits an das Aufstellen der Geräte, während die Lehrerin den Knaben erklärt, wo sie ihre Stufenbarren aufstellen sollen. Einzelne Schülerinnen probieren gleich auf den Langbänken ihre Kunststücke. Die Lehrerin macht verschiedene Anweisungen betreffend der Aufstellung der Geräte und mahnt die Schülerinnen, noch ein paar Matten neben die Bänke zu legen. Auch an den Barren wird zum Teil schon geturnt.
(c) Während viele Schüler immer noch am Aufstellen der Geräte sind, fragt eine Schülerin die Lehrerin: "Müssen wir ein Tänzchen machen?"
Lehrerin: "Nein, die Aufgabe lautet nicht ein Tänzchen machen, sondern drei Längen zu turnen und mir vorzuzeigen."
Eine andere Schülerin fragt, ob sie auch ein Rad turnen darf? Die Lehrerin bejaht die Frage.
(d) Anschliessend beschäftigt sich die Lehrerin hauptsächlich mit dem Aufstellen der Stufenbarren, das den Knaben sichtlich Mühe bereitet. 10 Minuten nach dem Erteilen der Aufgaben stehen drei Barren mit den entsprechenden Matten in der Halle und die Lehrerin kann den Knaben ihre Aufgabe stellen: Verschiedene Auf- und Abgänge am Barren. Während der Übungsphase sichert die Lehrerin bei gefährlichen Elementen und regt mit verschiedenen Vorschlägen die Phantasie der Knaben an. Dabei wechselt sie von Zeit zu Zeit die Gruppe.
(e) Die Mädchen (im Rücken der Lehrerin) gehen auf den Langbänken hin und her. Einzelne versuchen das Rad, andere machen verschiedene Hüpfformen. Die Vielfalt der Elemente ist nicht sehr gross.
(f) 5 Minuten später versammelt sie die Knaben und lässt einzelne die gefundenen Auf- und Abgänge allen vorzeigen. Es melden sich vier Knaben, die sehr unterschiedliche Formen vorturnen. Dabei werden auch neue Namen für bisher unbekannte Formen erfunden. Z.B. "Schwabeler" für ein Abrutschen bäuchlings vom hohen auf dem niederen Holmen. Am Schluss zeigt die Lehrerin noch eine weitere Form vor. Die gezeigten Auf- und Abgänge sollen nun von allen ausprobiert werden.
(g) Die Knaben gehen wieder zurück zu ihren Geräten und die Lehrerin wendet sich den Mädchen zu. Dabei fällt ihr eine Schülerin auf, die auf eine Weichmatte sitzt: "Ist dir langweilig?"
Schülerin (gelangweilt): "Nein, nein"
Lehrerin: "Kannst du drei Längen turnen?"
Die Schülerin zeigt verschiedene Formen vor: Hüpfen, Drehung, Rad. Auch andere möchten ihre Ergebnisse zeigen, die Lehrerin winkt jedoch bald schon ab, mit dem Hinweis auf die fortgeschrittene Zeit.


Fallinterpretation:
Auch wenn die Antwort der Schülerin "nein" ist, zeigt der Kontext, dass sie eigentlich das Gegenteil meint. Während über 30 Minuten haben die Mädchen nichts anderes zu tun als auf dem "Schwebebalken" verschiedene Elemente zu finden und sie zu drei Längen zusammenzusetzen. Die magere Vielfalt (e) lässt schliessen, dass es für die Mädchen nicht einfach ist, neue Elemente zu finden. Es stellt sich die Frage, wie die Lehrerin diese Langeweile hätte verhindern könnte? Wie kommen die Schülerinnen zu weiteren Elementen auf dem Balken, ohne dass die Offenheit des Unterrichts verlorengeht?
Die Lehrerin versucht mit dem Verweis auf die Kunstturnerinnen im Fernsehen den Schülerinnen ein Bild zu vermitteln, wie auf dem Schwebebalken geturnt wird. Fraglich bleibt bei diesem Bild einerseits, ob die Schülerinnen diese Turnerinnen wirklich schon gesehen haben und sich daran erinnern können (a). Andererseits können die von Spitzensportlerinnen geturnten Elementen kaum in einen Zusammenhang mit den in der 5. Klasse möglichen "Kunststücken" gebracht werden. Da wäre das Bild des "Tänzchen" vielleicht angebrachter, aber die Lehrerin verneint den entsprechenden Vorschlag (c).
Eine mögliche Lösung des Problems zeigt die Lehrerin gleich selbst mit den Knaben vor. Während die Mädchen versuchen, selbständig Formen zu finden, werden die Knaben praktisch während der ganzen Stunde von der Lehrerin betreut. Trotzdem bleibt der Unterricht offen, die Lehrerin sichert lediglich gefährliche Elemente und "regt mit Vorschlägen die Phantasie der Knaben an"(d). Dass die Knaben dabei wirklich auch eigene Elemente finden, zeigt das Erfinden von neuen Namen (Schwabeler) und Elementen (f). Gelungen ist sicher auch die Methode, dass sich die verschiedenen Gruppen ihre Elemente untereinander zeigen und nachturnen(f).
Obwohl die Situation bei den Mädchen noch offener gestaltet ist, wirkt sie am Ende sehr lehrerkonzentriert: die Schülerinnen möchten gerne die gefundenen Formen der Lehrerin zeigen. Obwohl sie dies am Anfang auch so angekündigt hat (c), verzichtet sie nun darauf mit dem Hinweis auf die fortgeschrittene Zeit (g). Die Möglichkeit, dass die Mädchen sich ihre Kunststücke untereinander zeigen, wird ihnen nicht gegeben. In Anbetracht der Altersstufe kann auch nicht davon ausgegangen werden, dass sie selbst die Idee dazu haben.
Durch die zu offen gehaltene Aufgabenstellung provoziert die Lehrerin die besprochene Langeweile. Die Betreuung der einzelnen Gruppen (Knaben/Mädchen) sollte ausgeglichener sein. Sofern dies zeitlich und organisatorisch nicht möglich ist, bestände eine andere Möglichkeit darin, dass die Lehrerin den Mädchen die Aufgabe enger fassen oder ihnen Entscheidungshilfen bieten würde (Bilder, Filme, mögliche Elemente auf einer Liste zusammentragen).
Das Beispiel zeigt auch, dass die betroffenen Mädchen mit der Offenheit der Situation überfordert sind. Von ihrer Schulsozilisation her, sind sie noch zu stark Lehrerkonzentriert und nicht gewohnt die eigene Kreativität mit einfliessen zu lassen. Eine Beschränkung der Mitbestimmungsmöglichkeit wäre hier angebracht.