Fall Nr. 89

 

Reckturnen

Schlüsselsatz: „Du musst ein bisschen mehr Sport machen und du solltest auf jeden Fall weniger essen!"
Stufe: Sekundarstufe I
Bewegungsfeld: Bewegen an Geräten
Disziplin/Sportart: Reckturnen
Inhalte präsentieren: Erklären
Mit Schüler*innen interagieren: Differenzieren und Individualisieren
Spezielle Themen: Gewalt/Mobbing
Textsorte: Didaktischer Text

Fallbeschreibung:

Sportunterricht in einer 6. Klasse; Einführung in das Reckturnen.
Der Lehrer erklärt zunächst den Aufbau des Recks; er zieht die drei Pfosten aus dem Boden und fordert 4 Schüler auf, die zwei Reckstangen im Geräteraum zu holen.
Nach dem Aufbau des Gerätes erklärt der Lehrer die Übung: „Hochspringen in den Stütz, dann eine Vorwärtsrotation und Abgang.“
Er holt Thomas, der sehr sportlich ist und lässt die Übung vormachen.
Nun turnen die Schüler an zwei Geräten diese Übung. Als Jonny an der Reihe ist, kommen die ersten Rufe: „Die fette Sau schafft das nie! Pass auf, dass die Stange nicht bricht!"
Der Lehrer ignoriert die Rufe und versucht Jonny auf die Stange zu helfen: „Komm schon, du schaffst das!“ Aber es gelingt ihm nicht den fettleibigen Jungen in den Stütz zu bringen. Viele der Schüler lachen.
Der Lehrer nimmt Jonny zur Seite: „Du musst ein bisschen mehr Sport machen und du solltest auf jeden Fall weniger essen! Bei der Übung kannst du wohl nicht mitmachen. Du kannst dich ja auf die Bank setzen. Vielleicht klappt´s ja bei der nächsten Übung.“
„So, und ihr anderen turnt weiter!“, sagt der Lehrer zu den anderen Schülern.
Jonny geht etwas geknickt zur Bank an der Seite und die Schüler turnen weiter.
Da die darauffolgenden Übungen noch schwerer und komplexer sind, fällt es dem Lehrer schwer Jonny zu integrieren und sagt zu ihm: „Komm Jonny, du kannst hier bei der Hilfeleistung helfen.“
Jonny geht zurück zum Reck und hilft. Manche der Schüler können sich das Flüstern und Lachen nicht verkneifen.


Fallinterpretation:
Für den Sportunterricht in einer 6. Klasse hat der Lehrer eine Einführung in das Reckturnen geplant. Nachdem die Geräte aufgebaut sind, die erste Übung erklärt und von Thomas vorgemacht worden ist, beginnt die Übungs-phase für die SchülerInnen. Diese scheint zunächst reibungslos zu verlaufen, bis Jonny an der Reihe ist. Schon bevor er ans Gerät geht, sind beleidigende Bemerkungen von seinen MitschülerInnen zu vernehmen, die sich offensichtlich auf Jonnys Körpergewicht beziehen. Der Lehrer reagiert nicht auf diese Rufe, stattdessen versucht er, Jonny bei der Bewältigung der vorgegebenen Übung zu helfen. Das bleibt jedoch ohne Erfolg, zieht allerdings weiteres Gelächter von seiten der anderen SchülerInnen nach sich.
Die nachfolgende Äußerung erlaubt Rückschlüsse darauf, worin die stellvertretende Problemdeutung des Lehrers besteht, denn er weist Jonny darauf hin, dass er weniger essen und mehr Sport treiben muss. Das Problem besteht für den Lehrer also in Jonnys Übergewicht, das ihn daran hindert, die Anforderungen des Turnunterrichts zu erfüllen.
Folgt man dieser stellvertretenden Problemdeutung und den genannten Bearbeitungsmöglichkeiten, dann erscheint die nun folgende Intervention allerdings paradox, denn Jonny wird vom Lehrer aufgefordert, sich auf die Bank zu setzen. Zwar verbindet er dies mit der Option, dass Jonny wieder mitmachen kann, sobald die Anforderungen es erlauben, da der Unterricht aber nach dem Prinzip „von leicht nach schwer“ bzw. „von einfach zu komplex“ aufgebaut ist, erweist sich die Hoffnung, Jonny wieder eingliedern zu können, als hinfällig. Die Lösung dieses Dilemmas besteht für den Lehrer darin, ihn als Hilfestellung einzusetzen.
Die stellvertretende Problemdeutung des Lehrers bezieht sich, wie bereits angesprochen, auf Jonnys Übergewicht. Die Ursachen dafür sieht er in mangelnder Bewegung und übermäßigem Essen, damit folgt er gängigen Erklärungsmustern. Auf das Ernährungsverhalten Jonnys kann der Lehrer kaum Einfluss nehmen. Hinsichtlich sportlicher Aktivitäten sind dem Sportunterricht realistisch betrachtet – selbst wenn Jonny besser als im vorliegenden Fall eingebunden wird – schon allein in zeitlicher Hinsicht enge Grenzen gesetzt. Demzufolge hat der Lehrer nahezu keine Möglichkeit, die Ursachen des von ihm ins Zentrum gestellten Problems zu bearbeiten. Das zeigt sich auch in seiner Äußerung, bei der er Jonny in die Verantwortung nimmt, damit aber auch die eigene Hilflosigkeit zum Ausdruck bringt: „Du musst ein bisschen mehr Sport machen und du solltest auf jeden Fall weniger essen!“ Ob Jonny als Sechstklässler die primäre Verantwortung für sein Übergewicht zugeschrieben werden kann, sei dahingestellt.
Hat der Lehrer im vorliegenden Beispiel demnach keine Möglichkeiten der stellvertretenden Problembearbeitung? Bleibt ihm nur, das Problem zu ak-zeptieren und ggf. an Jonny, seine Familie oder gar therapeutische Einrich-tungen zu delegieren? Zeigen sich die Grenzen zum medizinischen Handeln und damit die Beschränkungen pädagogischer Intervention? Oder lassen sich weitere pädagogische Handlungsmöglichkeiten finden, die vom Lehrer nicht (ausreichend) genutzt worden sind? Hätte er sich z.B. noch intensiver um eine aktive Teilnahme Jonnys bemühen müssen?
Die letzte Frage knüpft an die anfänglichen Versuche des Lehrers an, Jonny auf die Reckstange zu helfen. Hätten hier nicht noch weitere Ansätze zur stellvertretenden Problembearbeitung folgen müssen, wenn man darunter versteht, dass die SchülerInnen angesichts je unterschiedlicher Lernvoraussetzungen bei der Bewältigung der an sie herangetragenen Anforderungen unterstützt werden sollen? Zu denken wäre beispielsweise an die gegenseitige Hilfestellung durch die SchülerInnen oder an entsprechende Gerätehilfen. Auch weitere Differenzierungen und Übungen zur Entwicklung der Lernvor-aussetzungen wären denkbar.
Aber wären die anderen SchülerInnen tatsächlich in der Lage, Jonny zu helfen, wenn dies nicht einmal dem Lehrer gelingt? Und kann stellvertretende Problembearbeitung bedeuten, dass Jonny geturnt wird? Wieviel Eigenaktivität ist notwendig, damit die Rede von der stellvertretenden Problembearbeitung noch Sinn hat? Mit anderen Worten: Wo liegt die Grenze der Stellvertretung? Wo beginnen zudem gesundheitliche Risiken angesichts nicht vorhandener Lernvoraussetzungen? Was also sollten die SchülerInnen an Fähigkeiten und Fertigkeiten mitbringen, um die geforderte Übung versuchen zu kön-nen und wo beginnt das Risiko von Verletzungen?
Nahe liegend erscheint demzufolge der Hinweis, den Unterricht stärker zu differenzieren und so an die unterschiedlichen Lernvoraussetzungen der SchülerInnen, insbesondere Jonnys anzuknüpfen. Ausgehend von einer sachbezogenen stellvertretenden Deutung des Unterrichtsthemas könnten demnach weitere Übungen zur Entwicklung der Lernvoraussetzungen, u.a. der Sprung- und Stütz- sowie Haltekraft, durchgeführt werden. Gegen diesen Ansatz ließe sich zum einen von der Seite der Anforderungen anführen, dass es sich bei der Übung, an der Jonny scheitert, um den Einstieg in das Reckturnen handelt. Demzufolge ist der Lehrer möglicherweise davon ausgegangen, dass Sechstklässler in der Lage sein müssten, die Übung zu bewältigen. Sprung in den Stütz mit nachfolgendem Felgabzug stellt „normalerweise“ selbst für Kinder im Vorschulalter kein Problem dar. Aber lässt sich hier sinnvoll mit einer Norm argumentieren, wenn es offensichtlich SchülerInnen gibt, die sie nicht erfüllen? Muss ein Lehrer aber nicht von bestimmten Voraussetzungen ausgehen, wenn er Unterricht plant? Oder gehört zu dieser Planung auch, dass mögliche Schwierigkeiten einzelner SchülerInnen Berücksichtigung finden?
Aber was könnte das im vorliegenden Fall bedeuten? Müssten Jonny – und ggf. weiteren SchülerInnen der Klasse – andere Aufgaben gestellt werden, bei denen es darum geht, die Voraussetzungen für die „Normaufgabe“ zu entwickeln? Aber sind angesichts deutlich übergewichtiger SchülerInnen – in der Darstellung des Vorfalls ist von „Fettleibigkeit“ die Rede – nicht relativ enge Grenzen gesetzt, wenn es um die Bewältigung sportlicher, besonders turnerischer Anforderungen geht? Welche Anforderungen können angesichts eines extrem ungünstigen Last-Kraft-Verhältnisses überhaupt bewältigt werden? Und wo sind mit dem Versuch der Bewältigung gesundheitliche Risiken verbunden? Sind die notwendigen Lernvoraussetzungen überhaupt im Rahmen des Sportunterrichts und jenseits einer Gewichtsreduktion zu entwickeln?
Aus diesen Überlegungen resultieren weitere Fragen: Eignet sich das Gerätturnen überhaupt für den Sportunterricht, wenn einzelne SchülerInnen so schlechte Voraussetzungen mitbringen? Aber existiert ein entsprechendes Problem in anderen Sportarten und Disziplinen nicht? Ist es sinnvoll, dass bestimmte Inhalte nicht mehr angeboten werden, weil einzelne SchülerInnen mit ihnen überfordert sind? Oder lässt sich das Problem lösen, indem nicht normorientiert, sondern in Form eher offener Bewegungsangebote gearbeitet wird? Was wäre damit gewonnen, wenn Jonny nicht eine vorgegebene Übung zu absolvieren hätte, sondern sich mit verschiedenen Geräten auseinander setzen dürfte und das Ziel im Sammeln von Bewegungserfahrungen bestünde? Auch damit ist das Problem m.E. nicht gelöst, sondern bestenfalls entschärft, denn zum einen muss gefragt werden, inwieweit die potenzielle Vielfalt des Sportunterrichts in dieser Form eingegrenzt werden kann und sollte, zum anderen ist auch das Sammeln von Bewegungserfahrungen durch Jonnys körperliche Voraussetzungen stark eingeschränkt. Überall dort, wo u.a. Sprung-, Stütz- und Haltekraft erforderlich sind, wird er massive Probleme haben. Und ob eine Gerätelandschaft tatsächlich eine anregende Wirkung auf Jonny ausübt, muss offen bleiben. Dafür spricht allerdings, dass Jonny keineswegs unwillig erscheint und sich eher geknickt als erleichtert auf die Bank setzt. Möglicherweise hat er durchaus das Bedürfnis, sich im Rahmen seiner Möglichkeiten am Sportunterricht zu beteiligen, und das, obwohl er von seinen MitschülerInnen verspottet wird.
Damit ist ein Problem angesprochen, hinsichtlich dessen der Lehrer im Rahmen des dargestellten Vorfalls nicht interveniert, denn er reagiert nicht auf die beleidigenden Kommentare von Jonnys MitschülerInnen. Nicht nur angesichts der Grenzen, die dem Lehrer bei der stellvertretenden Bearbeitung von Jonnys Gewichtsproblem gesetzt sind, stellt sich die Frage, ob er sich nicht eher auf die Interaktionsprobleme innerhalb der Klasse konzentrieren müsste. Liegt das pädagogisch relevante Problem nicht auf der Interaktionsebene, insofern als Jonny von seinen MitschülerInnen verspottet und beleidigt wird? Ist es aus dieser pädagogischen Perspektive nicht sogar irrelevant, warum die SchülerInnen sich so gegenüber Jonny verhalten? Ist nicht allein entscheidend, dass dies geschieht und so nicht akzeptiert werden kann? Oder noch deutlicher konstruktivistisch formuliert: Für die Eröffnung pädagogischer Handlungsmöglichkeiten ist es notwendig, ein pädagogisches Problem zu definieren bzw. das Problem als pädagogisches zu konstruieren. Die stellvertretende Problemdeutung des Lehrers eröffnet ihm keine Bearbeitungsmöglichkeiten, denn die Ursachen von Übergewicht lassen sich nicht pädagogisch und auch nicht sportpädagogisch bearbeiten, zumindest nicht im Kontext von schulischem Unterricht.
Welche Möglichkeiten der stellvertretenden Problembearbeitung eröffnet demgegenüber der Fokus auf die SchülerInneninteraktionen? Zunächst erfordern Beleidigungen wie „Die fette Sau schafft das nie!“ eine unmittelbare Reaktion des Lehrers, der deutlich machen muss, dass entsprechende Äußerungen nicht geduldet werden. Damit ist selbstverständlich zunächst nur die Oberfläche der Problematik berührt, so dass nach weitergehenden Bearbeitungsmöglichkeiten gesucht werden muss, die die Ursachen betreffen. Diese liegen jedoch nicht primär darin, dass Jonny übergewichtig ist, sondern dass sein Übergewicht zum Ausgangspunkt genommen wird, um ihn zu verspotten und auszugrenzen. Ursachen für Spott und Ausgrenzung sind aber nahezu beliebig austauschbar, wenn auch bestimmte Voraussetzungen die Wahrscheinlichkeit erhöhen. Noch wesentlicher erscheint, dass der aktive Part bei denjenigen liegt, die verspotten und ausgrenzen. Die Ursache des Problems liegt also nicht primär bei Jonny, sondern bei denjenigen, die sein Übergewicht als willkommenen Anlass nehmen, um ihn zu beleidigen. Eine weitergehende stellvertretende Problembearbeitung würde also das Verhal-ten der MitschülerInnen gegenüber Jonny bzw. die Klassenatmosphäre be-treffen.
In diesem Bereich kann der Sportunterricht durchaus einen wesentlichen Beitrag zur Verbesserung leisten, wird allerdings nicht ohne oder gar gegen das, was im sonstigen Unterricht und Schulleben passiert, erfolgreich sein können. Eine Zusammenarbeit mit den beteiligten KollegInnen und besonders mit der KlassenlehrerIn ist demnach notwendig. Auch hier sind selbstverständlich in der Realität Grenzen der stellvertretenden Problembearbeitung gesetzt, u.a. durch möglicherweise mangelnde Kooperation zwischen den LehrerInnen einer Schule. Anders als die oben diskutierten Grenzen im Übergang zu therapeutischem Handeln müsste dann aber von einem Versäumnis hinsichtlich der Aufgaben von Schule und LehrerInnen gesprochen werden, denn Interaktionsprobleme zwischen SchülerInnen gehören zum Kern des pädagogischen Aufgabenspektrums.
Die Grenzen der stellvertretenden Problembearbeitung zeigen sich im vorlie-genden Beispiel demnach erneut dort, wo die Ursachen eines Problems, welches verhindert, das ein Schüler die Anforderungen des Sportunterrichts erfolgreich bewältigen kann, nicht pädagogisch, sondern primär therapeutisch zu bearbeiten sind. Damit sind SportlehrerInnen aber nicht aus der Verantwortung entlassen. Pädagogische Handlungsmöglichkeiten ergeben sich jedoch nur dann, wenn zum einen diese Grenzen beachtet und die pädagogische Aufgabe im Anknüpfen an die Lernvoraussetzungen und nicht in der Bearbeitung der Ursachen gesehen wird. Zum anderen werden pädagogische Handlungsmöglichkeiten dann eröffnet, wenn die Problemdeutung pä-dagogisch ausgerichtet ist, also hier die Interaktionen zwischen den SchülerInnen Beachtung finden. Die Aufgabe der LehrerInnen besteht also darin, an einer Klassenatmosphäre der gegenseitigen Akzeptanz zu arbeiten, die dann die Basis darstellt für differenzierende Maßnahmen hinsichtlich der unterschiedlichen Lernvoraussetzungen. Ob das Anknüpfen an diese Lernvoraussetzungen in Form innerer Differenzierung noch sinnvoll greifen kann oder tatsächlich – wie teilweise schon praktiziert – auf Maßnahmen der äußeren Differenzierung übergegangen werden muss, ist schwierig zu beantworten, vor allem, weil die tatsächlichen Wirkungen und möglichen Nebenwirkungen der letztgenannten Option noch weitestgehend offen sind. Beide Verfahren der Differenzierung können aber nur dann Ausgrenzungstendenzen verhindern bzw. entschärfen, wenn die angesprochene gegenseitige Akzeptanz als Grundlage vorhanden ist. Der vorliegende Vorfall verweist aber auch auf mögliche Grenzen des pädagogischen Anknüpfens an die unterschiedlichen Lernvoraussetzungen innerhalb eines Klassenverbandes. Wieviel Heterogenität ist im schulischen Kontext noch bearbeitbar? Wo liegen die Grenzen von Differenzierung und Integration – die notwendig miteinander verbunden sind – für das Unterrichten von Gruppen mit 20 bis 30 SchülerInnen?
Grenzen der Stellvertretung konnten zudem dort ausgemacht werden, wo eine im Rahmen des Unterrichtsthemas sinnvolle Hilfeleistung dazu tendiert, das Moment der Selbsttätigkeit auszuschalten. Lernen bedarf der Eigenaktivität und die Zurechnung einer Leistung ist einem Schüler nur möglich, wenn er sich auch als für das Zustandekommen mitverantwortlich erlebt. Das wird schwierig, wenn er lediglich „geturnt wird“.
aus: Lüsebrink, I. (2006). Pädagogische Professionalität und stellvertretende Problembearbeitung - ausgelegt durch Beispiele aus Schulsport und Sportstudium (S. 100-105). Köln: Strauß.