Fall Nr. 47

 

Notengebung

Schlüsselsatz: Meine Klasse hatte es in den zwei Jahren geschafft, dass Katrin am Sporttreiben Spass bekommen hat. Nun kam die Mutter und wollte ihr das alles wieder austreiben.
Stufe: Sekundarstufe I
Bewegungsfeld: nicht definiert
Mit Schüler*innen interagieren: Beobachten – Beurteilen – Korrigieren und Feedback geben
Textsorte: Chronik

Fallbeschreibung:

Dokumentation meiner Fallgeschichte
Während den letzten zwei Jahren unterrichtete ich an der Diplommittelschule zwei in Muttenz die Klasse X im Fach Turnen und Sport. In der ersten Stunde beobachtete ich, dass ich in dieser Klasse ein Mädchen hatte, welches sich sehr ängstlich in der Turnhalle bewegte. Während den folgenden Wochen stellte ich folgendes fest: Katrin hatte grosse Koordinationsprobleme, sie war nicht in der Lage, einen Ball zu fangen und verhielt sich sehr ängstlich, sobald sie in eine Spielsituation miteinbezogen wurde. Ihr Erscheinungsbild war sehr zurückhaltend; Katrin ist ein zierliches, schlankes und eher kleines Mädchen (ca. 155cm gross). Nach etwa einem Monat hatte ich ein erstes Gespräch unter vier Augen mit ihr. Katrin erzählte mir, dass sie gerne in den Sportunterricht komme. Ich sprach sie auf ihre Schwächen im Bereich Ballsportarten an und erfuhr, dass sie sich bis jetzt durch den Turnunterricht geschmuggelt hatte, und zwar mit häufigen Turndispensen und daher selten am Turnunterricht teilgenommen hatte. Ein Grund hierfür war, dass sie häufig von ihren Klassenkameradinnen (der Turnunterricht war nicht mit den Knaben zusammen) gehänselt wurde und auch nie richtig im Turnen integriert war. Jetzt wolle sie aber gerne mitmachen, denn in der Klasse X fühle sie sich sehr wohl. Am Ende einigten wir uns darauf, dass ich Katrin jeweils zweimal in der Woche für eine halbe Stunde ‚Nachhilfe’ im Turnen gäbe.
Die Wochen vergingen und Katrin machte gute Fortschritte. In den Spielen wurde sie von ihren Kameradinnen und Kameraden miteinbezogen. Wichtig für mich war, dass sich Katrin wohl fühlte und mit Freude am Unterricht teilnahm. Sie war immer motiviert, kam regelmässig in die ‚Nachhilfe’ und fehlte nie in den Turnstunden. Bald waren die ersten Semester vorüber und Katrin bekam im Fach Turnen in den ersten zwei Semestern eine 3.5.
Auch die nächsten zwei Semester verliefen durchaus positiv, Katrin machte weiterhin Fortschritte und begann sogar in der Freizeit selber Sport zu treiben (Schwimmen, Joggen, Volleyballspielen mit ihren Schulkameradinnen und –kameraden). Im letzten Semester machte ich Noten in den Disziplinen Hochsprung, Basketball, Volleyball und Geräteturnen. Hinzu kam noch eine allgemeine Spielnote. Im Hochsprung gab ich ihr für die Technik eine drei, in der Leistung erhielt sie eine eins. Im Basketball bekam sie ebenfalls eine drei, im Volleyball eine 3.5 und im Geräteturnen für die Ausführung eine 3, für die Kreativität (es handelte sich um eine Partnerübung) eine 4.5. In der allgemeinen Spielnote gab ich Katrin eine 4. Dies ergab am Ende die Note 3. Ich besprach mit Katrin ihre Noten.
Nachdem die Zeugnisse ausgeteilt waren, erhielt ich von der Mutter von Katrin einen Telephonanruf. Sie teilte mir ihre Verärgerung über die drei im Fach Turnen mit und warf mir vor, dass ich in die Notengebung nicht miteinbezogen hätte, dass Katrin immer präsent war, dass sie immer motiviert war und fragte mich, ob denn diese Faktoren nicht ausreichen, um mindestens eine vier im Abschlusszeugnis zu bekommen. Mit dieser drei im Diplomzeugnis hätte ich Katrin in ihrer Zukunftsplanung sehr geschadet, denn sie würde nun keine Lehrstelle finden, da man jetzt von Katrin denke, sie sei faul und hätte nie am Turnunterricht teilgenommen. Die enttäuschte Mutter gab mir noch zu verstehen, dass sie Katrin lieber vom Turnunterricht dispensiert hätte, wenn sie gewusst hätte, dass sie am Ende eine drei im Zeugnis erhält. Sie würde ihrer Tochter nun vom Sporttreiben abraten, denn es hätte ja eh keinen Sinn. Hier muss ich noch hinzufügen, dass Katrin in allen anderen Fächern eine 5.5 oder 6 hatte.
Nach diesem Gespräch machte ich mir sehr viele Gedanken und fragte mich immer wieder, ob diese drei gerecht war oder nicht. Ist es überhaupt möglich, gerechte Noten im Fach Turnen und Sport zu verteilen? Kann eine Note einen solchen Stellenwert haben? Auch war ich sehr niedergeschlagen nach diesem Gespräch. Meine Klasse hatte es in den zwei Jahren geschafft, dass Katrin am Sporttreiben Spass bekommen hat. Nun kam die Mutter und wollte ihr das alles wieder austreiben.