Fall Nr. 85

 

„Na, war das jetzt so schlimm?“

Schlüsselsatz: „Na, war das jetzt so schlimm?“
Stufe: Primarstufe
Bewegungsfeld: Schwimmen
Spezielle Themen: Sicherheit
Textsorte: Didaktischer Text

Fallbeschreibung:

Ich war in der 1. Klasse. Ein Mal in der Woche hatte unsere Klasse Schwimmunterricht. Das Durchschwimmen einer 25 m Bahn bereitete mir Schwierigkeiten. Nach mehrmaligen, vergeblichen Versuchen an unterschiedlichen Tagen schickte meine Lehrerin am Ende der Unterrichtseinheit alle anderen Schüler in die Umkleide, nur ich sollte noch bleiben. Sie sagte mir, sie wolle mit mir diese Bahn schwimmen. Sie würde direkt vor mir schwimmen und wenn ich es nicht mehr aushielte, könne ich mich an ihrer Schulter festhalten. Ich erklärte mich einverstanden.
Wir gingen in der Mitte des Beckens ins Wasser, d.h. zu beiden Beckenseiten war der Abstand gleich. Ungefähr nach der Hälfte der Strecke gingen mir die Kräfte aus. Ich versuchte mich an der Schulter meiner Lehrerin festzuhalten, aber sie schwamm seitlich unter mir weg, so dass ich weiter schwimmen musste. Den Rest der Strecke konzentrierte ich mich nur noch darauf, ihre Schulter zu erreichen, aber sie entzog sich mir immer wieder auf die gleiche Weise.
Am Beckenrand angekommen kletterte ich mit gummiartigen Beinen aus dem Wasser. Meine Lehrerin fragte mich mit einem Lächeln: „Na, war das jetzt so schlimm?“


Fallinterpretation:
Interpretation 1:
Das Arbeitsbündnis gilt im strukturtheoretischen Ansatz als zentrale Basis praktischen pädagogischen Handelns. Im Gegensatz zu dem prinzipiellen Fehlen der Freiwilligkeit als schülerInnenseitiger Voraussetzung für ein funktionierendes Arbeitsbündnis, scheint im vorliegenden Fall eine explizite Wahlmöglichkeit der Schülerin und ein explizit geschlossenes Arbeitsbündnis zwischen Lehrerin und Schülerin vorzuliegen. Offen bleiben muss allerdings, inwieweit angesichts des schulischen Kontextes, der hierarchisch strukturierten Lehrerin-Schülerin-Beziehung sowie des Alters der Schülerin tatsächlich von einer „freien Wahl“ gesprochen werden kann.
Die stellvertretende Problemdeutung der Lehrerin scheint zu dem Ergebnis zu führen, dass die Schülerin die Schwimmstrecke „eigentlich“ bewältigen kann, sie „lediglich“ durch ihre Angst daran gehindert wird. Ist diese Problemdeutung ausreichend oder müsste sie noch weitergeführt werden? Hätte die Lehrerin nach den Ursachen der Angst forschen müssen, um diese als Ansatzpunkt für ihre Intervention nutzen zu können? Ist es entscheidend für das pädagogische Handeln der Lehrerin, ob die Angst der Schülerin auf dramatischen Vorerfahrungen (z.B. des Fast-Ertrinkens) beruht, ob die Schülerin tendenziell eher ängstlich ist oder angesichts von Anforderungen zur vorzeitigen Aufgabe neigt? Ändert das Wissen über Ursachen etwas an der pädagogischen Intervention, findet diese unabhängig von den Ursachen statt oder entsteht damit die Gefahr, lediglich an Symptomen anzusetzen? Selbstverständlich kann es auch für eine LehrerIn hilfreich sein, etwas über die Ursachen der Lernprobleme ihrer SchülerInnen zu wissen, ohne allerdings dann therapeutisch aktiv zu werden. Ob eine entsprechende Ursachenermittlung angesichts der Rahmenbedingungen von LehrerInnenarbeit aber überhaupt einigermaßen befriedigend gelingen kann, erscheint zweifelhaft. Allerdings stellt sich die Frage, worin die Besonderheit des Falles besteht, wenn nicht in den jeweiligen Ursachen? Die beschriebene Erscheinungsform erscheint jedenfalls als keineswegs einzigartig, sondern ausgesprochen typisch für Probleme beim Schwimmenlernen.
Welche Perspektiven werden eröffnet, wenn von der anderen Seite, also der „Sache“ ausgehend eine detaillierte Rekonstruktion des Unterrichtsgegenstandes erfolgt? Angesichts der bisherigen Überlegungen erscheint hier vor allem interessant, aus welchen Komponenten sich eine sportliche Leistung, wie z.B. das (erstmalige) Schwimmen einer 25-m-Strecke, zusammensetzt. Der vorliegende Fall macht deutlich, dass Angst nichts dieser und vielen anderen sportlichen Leistungen „Äußerliches“ ist, sondern zu deren Kern dazugehört. Sportliche Leistungen lassen sich nicht allein auf das motorische Vermögen reduzieren, motivationale, kognitive und emotionale Momente gehören unabdingbar hinzu und lassen sich bestenfalls analytisch trennen. Von daher ist die Formulierung, dass die Schülerin es ja „eigentlich kann“, irreführend. Der Umgang mit der Angst gehört zum „eigentlichen Können“ dazu.
Die Angst der Schülerin scheint in der Wahrnehmung der Lehrerin – so ließe sich interpretieren – aber nicht nur etwas der Leistung Äußerliches zu sein, sondern vor allem eine Störgröße. Stellt man die Bewältigung der 25-m-Strecke ins Zentrum, dann ist diese Sicht unmittelbar nachvollziehbar. Auch vor dem Hintergrund einer Bewertung der Angst als unangemessen groß ist der Fokus der Störgröße plausibel. Betrachtet man jedoch eine wesentliche Funktion des Schwimmenkönnens, nämlich den dadurch erhofften Schutz vor Ertrinken, dann kann die Bewertung von Angst auch anders ausfallen. Denn Angst kann nicht nur eine Störgröße beim Erbringen sportlicher Leistungen sein, sondern nimmt auch eine wichtige Signalfunktion angesichts von Gefahr ein. Kinder ertrinken nicht allein, weil sie nicht oder nicht ausreichend gut schwimmen können, sondern auch, weil sie die Gefahren am und im Wasser in Relation zu ihrer Schwimmfähigkeit nicht realistisch einschätzen. Hier kann Angst demnach vor Selbstüberschätzung und damit vor Lebensgefahr schützen. Aus dieser Perspektive wären daher die Ängste von SchülerInnen zunächst einmal ernst zu nehmen, was bestimmte Formen der Bearbeitung von vornherein ausschließt.
Betrachtet man die stellvertretende Problembearbeitung im engeren Sinne, dann besteht diese im vorliegenden Fall aus dem expliziten Schließen eines Arbeitsbündnisses sowie dessen nachfolgendem Bruch. Während Oevermann die stellvertretende Problembearbeitung angesichts von Lernschwierigkeiten als Kern pädagogischer Professionalität versteht, sind die erneuten Schwierigkeiten der Schülerin bei der Bewältigung der 25-m-Strecke für die Lehrerin genau der Punkt, an dem sie das Arbeitsbündnis bricht. Dies lässt sich so interpretieren, dass die Lehrerin an einem technokratisch-normativen Modell standardisierten Funktionierens orientiert ist. Würde im Gegensatz dazu die Krise als Normalfall pädagogischen Handelns angesehen, dann dürfte als Intervention auf eine kritische Situation – eine Schülerin hat Schwierigkeiten beim Schwimmenlernen – nicht der Bruch des Arbeitsbündnisses folgen, nach dem Motto: Arbeitsbündnis ja, aber wenn es Probleme gibt, dann kann es durchaus sinnvoll, angemessen oder notwendig sein, dieses zu brechen.
[…]
Die Frage der Stellvertreterfunktion sowie der Herstellbarkeit von Lernen lässt sich in Hinsicht auf die Funktionen professionellen pädagogischen Handelns weiter verfolgen. Der Blick auf den zentralen Fokus des Erwachsen-Werdens macht möglicherweise deutlich, dass es Grenzen der Stellvertretung und d.h. der Fremdbestimmung auf dem Weg zur Selbstbestimmung gibt, die sich zwar schwer und bestenfalls für den Einzelfall bestimmen lassen, für das vorliegende Beispiel aber darauf verweisen, dass sich der konstruktive Umgang mit Angst nicht durch vollständige Fremdbestimmung in der konkreten Konfrontation mit einer angstbesetzten Situation erzwingen lässt. Autonomie als Erwachsene beinhaltet auch, die eigenen Gefühle wahr- und ernst zu nehmen und sich auf dieser Basis mit z.B. Angst erzeugenden Situationen auseinander zu setzen. Das Konstrukt der Hilfe zur Selbsthilfe schließt demzufolge das beschriebene Vorgehen der Lehrerin als mögliche Problembearbeitung aus.
Dies gilt auch unter Berücksichtigung der Grundparadoxie erzieherischen Handelns, durch Fremdbestimmung zur Selbstbestimmung führen zu müssen. Denn das LehrerInnen-SchülerInnen-Verhältnis ist zwar ein hierarchisches, in dem es keine gleichrangigen BündnispartnerInnen geben kann. Was aber heißt „nicht gleichrangig“? Rechtfertigt dies Vertragsbrüche und nicht eingehaltene Versprechen oder wird damit „nicht gleichrangig“ zu „nicht gleichwertig“? Und auch wenn das pädagogische Arbeitsbündnis nicht ohne Zwang und Fremdbestimmung auskommen kann, verweisen die vorliegenden Überlegungen auf die notwendigerweise zu berücksichtigende Besonderheit beim pädagogischen Umgang mit dem Phänomen Angst. Selbst wenn sich die Frage, ob Zwang angesichts von Angst sinnvoll, notwendig, überflüssig oder gar kontraproduktiv ist, nicht eindeutig beantworten lässt, erscheint mir eines entscheidend: Die Anwendung von Zwang ist und bleibt in dieser Situation vor allem riskant, sowohl hinsichtlich der weiteren Entwicklung der Lehrerin-Schülerin-Beziehung, die durch den Vertrauensbruch tief greifend gestört sein könnte als auch in Bezug auf die Angst der Schülerin, von der man zum einen nicht weiß, ob sie durch das gewählte Arrangement reduziert ist oder aber erhöht, zum anderen auch bei „erfolgreicher“ Angstüberwindung fraglich bleibt, ob die Schülerin einen konstruktiven Umgang mit ihren Ängsten erlernt hat. Dieses Risiko gilt zudem unabhängig von den Ursachen der SchülerInnenangst. Egal ob dieser dramatische Erfahrungen zugrunde liegen oder nicht, entscheidend ist, dass sie Angst hat, dass diese ernst genommen werden muss, und dass demzufolge unkalkulierbare Risiken zu vermeiden sind.
aus: Lüsebrink, I. (2006). Pädagogische Professionalität und stellvertretende Problembearbeitung - ausgelegt durch Beispiele aus Schulsport und Sportstudium (S. 119-124). Köln: Strauß.


Interpretation 2:
Die Lehrerin versucht mit einem „Bauerntrick“ die Schülerin zum Schwimmen einer ganzen Bahnlänge zu „überreden“. Obwohl das Mittel sehr martialisch wirkt, scheint ihr der vermeintliche Erfolg recht zu geben. Trotzdem lässt sich bezüglich der Mittel ein Fragezeichen setzen. Heiligt der Zweck die Mittel? Wurde z.B. das Risiko bezüglich einer Panikattacke der Schülerin im Wasser von der Lehrerin realistisch eingeschätzt?
Angst hat viele Gesichter und kann sich graduell von einer leistungssteigernden leichten Furcht bis einer völlig blockierenden, die erlernte Bewegungsgestalt zerstörenden Panik steigern. Die Aussage der Schülerin, sie habe nur noch versucht „den rettenden Rücken zu erreichen“, weist darauf hin, dass in dieser „Lern-Situation“ eine massive Angsterregung stattgefunden hat.
Eine sorgfältige Wassergewöhnung, die schrittweise zur Wasserbeherrschung führt kann Ängste im Wasser abbauen und den Schwimmunterricht lernwirksam vorbereiten.
Wurde der Sorgfaltspflicht der Lehrerin gegen über der ängstlichen Schülerin durch das „didaktische Arrangement „ 25m Schwimmen mit einer sich immer wieder entziehenden Begleitung durch die Lehrerin “ ungenügend wahrgenommen?
Die erforderliche Sorgfaltspflicht im schulischen Sportunterricht erfordert die kontinuierliche und aktive Gefahrenerkennung.
Kann ein Vertrauensbruch als pädagogische Massnahme toleriert werden?
Das Vertrauensverhältnis zur Lehrerin wurde massiv strapaziert, die Schülerin sah sich im ihr im Moment „feindlichen Element Wasser“ im Stich gelassen. Als pädagogische Massnahme schätze ich diese Form einer „Mut-Probe“ als fragwürdig ein.
Der Erziehung zum Selbst- und Fremdvertrauen, einer für das sportive Handeln wichtigen sozialen Voraussetzung, wurde mit dieser verweigerten Hilfestellung durch die Lehrerin nicht gedient.
Wurde durch diese situative (Über)Forderung der Schülerin ein „Vermeidungslernen“ initiiert, dass das selbständige, sich „schwimmend im Wasser bewegen“ zukünftig eher behindert?
Ich gehe davon aus, dass die Erfahrung der „Hilflosigkeit“ die Bereitschaft der Schülerin, sich dem Wasser anzuvertrauen und sich darin wohl zu fühlen, deutlich gehemmt hat. Der Lernprozess der „Ermutigung“ wirkt deutlich besser, wenn nicht ein fremdbestimmtes sondern ein „selbsterfühltes Erfolgserlebnis“ resultiert.


Orientierungshilfen; www.bfu.ch
Safety Tool Nr. 3 Unterrichtsblätter zur Sicherheitsförderung „Wasser-Sicherheits-Check WSC“ für 6-8 Jahre

Kommentar / Beratung; Fernand Firmin Dr. phil. Sportpädagoge und Sport Safety Coach im Auftrag der bfu, Klusstrasse 18, 3150 Schwarzenburg, Email; ferdy.firmin@bluewin.ch