Fall Nr. 122

 

„Ich bin erst dran!“

Schlüsselsatz: „Ich bin erst dran!“
Stufe: Sekundarstufe I
Bewegungsfeld: Bewegen an Geräten
Disziplin/Sportart: Ringturnen
Textsorte: Didaktischer Text

Fallbeschreibung:

Sportunterricht in einer Hauptschule im Rahmen einer Übermittagsbetreuung. In der Turnhalle befinden sich 7 Mädchen, im Alter zwischen 10 und 12 Jahren, die an dem Projekt teilnehmen. Der Unterricht läuft parallel und ergänzend zum Sportunterricht am Vormittag. Das Thema der heutigen Stunde ist Turnen an den Ringen, was sich einige Schülerinnen, darunter auch Sedda (12 Jahre) gewünscht haben.
Nach dem Aufbau, der eher in einem mäßigen Tempo voranschritt, startet die erste Übungsrunde und die Kinder sollen erst einmal ein Gefühl für das Schwingen an den Ringen bekommen. Sedda ist die erste in der Reihe, da die Lehrerin, Frau X, die Mädchen sich der Größe nach hat aufstellen lassen. Ilenia, die kleinste in der Klasse und sehr schüchtern, befindet sich unmittelbar neben der Gruppe auf einer Bank. Als alle bis auf Ilenia geturnt haben und sie an der Reihe ist, erhebt Sedda Einspruch: „Ich bin erst dran, ich bin erste“.
Daraufhin Frau X: „Ja, Sedda, du bist zwar erste, aber erst ist Ilenia an der Reihe, sie hat noch gar nicht geturnt.“
Sedda tritt drei Schritte auf die Matte und erklärt: „Ich steh vorn in der Reihe, deshalb bin ich jetzt dran.“
Frau X erklärt noch sehr ruhig: „Zuerst ist Ilenia an der Reihe, da sie die letzte ist, und die letzte kommt bekanntlich vor der ersten. Sie war schließlich noch gar nicht dran.“
Ilenia steht eingeschüchtert auf der Matte neben den Ringen und hält sich zurück. Es läßt sich noch festhalten, daß Ilenia von Sedda häufig aufgrund ihrer Größe gehänselt wird. Sedda hat eine Führungsposition in der Gruppe. Sedda steht demonstrativ mit verschränkten Armen vor den Ringen, welche von Frau X festgehalten werden, und betont, daß sie die Matte nicht verlässt.
Die Lehrerin: „Sedda, versteh doch bitte, daß ich keine Lust habe, die Ringe andauernd hoch und runter zu stellen, deshalb seid ihr geordnet nacheinander dran. Jetzt sind die Ringe ganz unten, deshalb ist Ilenia noch vor dir dran, bei dir werden die Ringe dann wieder ganz hoch gestellt. Du bist größer. Also mach jetzt bitte die Matte frei.“
Sedda bleibt trotzig stehen. Langsam schalten sich die anderen Schülerinnen ein: „Sedda, jetzt mach endlich die Matte frei, in der Zeit wärst du schon drei mal dran gewesen. Immer gibt es wegen dir Probleme.“
Sedda bleibt jedoch demonstrativ auf der Matte stehen und versperrt die Übungsfläche. Nach einigen weiteren Wortwechseln in der Art und weiteren fünf Minuten, die verstrichen sind, zieht Frau X ihre Konsequenzen und beendet die Übungsreihe an den Ringen. Sedda verlässt daraufhin trotzig die Halle und geht rüber zu der restlichen Gruppe, die sich im Gemeinschaftsraum der Übermittagsbetreuung befindet. Da die Anlage noch aufgebaut ist, wird der Übungsbetrieb zumindest für die letzten 10 Minuten von Frau X fortgesetzt, was die restlichen Kinder sehr freut.


Fallinterpretation:
Im vorliegenden Beispiel ist ein Arbeitsbündnis bereits etabliert: Die Mädchen turnen begeistert an den Ringen. Dabei handelt es sich um ein Unterrichtsthema, das die Lehrerin auf expliziten Wunsch der Schülerinnen anbietet. Das Arbeitsbündnis wird jedoch gestört, als es Probleme wegen der Reihenfolge gibt: Während die Lehrerin darauf verweist, dass Ilenia noch gar nicht geturnt hat und daher als nächste dran ist, besteht Sedda darauf, dass sie als erste in der wartenden Reihe nun turnt. Es folgt ein offener Machtkampf und der Zusammenbruch des Arbeitsbündnisses zwischen Sedda und der Lehrerin. Gleichzeitig wird das Weiterturnen der anderen Mädchen boykottiert.
Die stellvertretende Problemdeutung der Lehrerin betrifft zwei mögliche Varianten: Zum einen ist es denkbar, dass Sedda die abseits sitzende Ilenia gar nicht wahrgenommen hat bzw. davon ausgegangen ist, dass sie nicht mitturnen will. Zum anderen und im Anschluss an die erste Variante wäre es auch möglich, dass sie dies zwar wahrgenommen hat, aber der Auffassung ist, dass Ilenia, wenn sie denn turnen will, sich wie alle anderen auch in der Reihe anzustellen hat. Tut sie dies nicht, dann hat sie auch kein Recht auf Teilnahme.
Hier stellt sich nun die Frage, warum Ilenia nicht in der Reihe steht. Die Darstellung des Vorfalls gibt erste Hinweise auf mögliche Gründe: Ilenia ist die kleinste in der Gruppe und offenbar sehr schüchtern. Dies allein rechtfertigt aber noch nicht, dass sie sich abseits der anderen aufhält. Die Studentin, die diesen Vorfall erlebt hat und sich hier mit Frau X bezeichnet, gibt im Rahmen einer Fallbearbeitung (innerhalb eines Seminars an der Hochschule) weitere Erläuterungen, die gleichzeitig auf ihre Rolle bei der Entstehung der problematischen Situation verweisen: Ilenia ist offenbar so schüchtern, dass sie sich immer am Rande der Gruppe bewegt und sich niemals in der Nähe der sehr dominanten Sedda aufhalten oder sich gar vor diese stellen würde. Damit wird etwas anderes deutlich: Der Ursprung des in der Beschreibung zentralen Konflikts – also des offenen Machtkampfes – liegt an anderer Stelle, nämlich dort, wo die Lehrerin aufgrund der dargestellten stellvertretenden Problemdeutung Ilenia betreffend zu einer bestimmten stellvertretenden Problembearbeitung gelangt: Ilenia muss sich nicht wie alle anderen in einer Reihe hinter den Ringen aufstellen, sondern darf auf der Bank neben dem Gerät warten. Diese Sonderbehandlung Ilenias ist nun entweder nicht explizit erfolgt, so dass sie für die anderen Schülerinnen – und vor allem Sedda – nicht transparent ist. Oder aber Sedda ist trotz ausdrücklicher Stellungnahme der Lehrerin nicht bereit, diese Sonderbehandlung zu akzeptieren. Ob undurchsichtig oder uneinsichtig, die stellvertretende Problembearbeitung der Lehrerin führt zu nicht beabsichtigten Nebenwirkungen und das heißt, zu einem neuen Problem, das schließlich in dem offenen Machtkampf zwischen der Lehrerin und Sedda mündet. Damit ist die in der Darstellung des Vorfalls zentrale Auseinandersetzung zwischen der Lehrerin und Sedda (mit)verursacht durch die vorangehende stellvertretende Problembearbeitung der Lehrerin, sie bringt sie durch ihre Interventionen erst hervor.
Die dargestellten Überlegungen machen damit Verschiedenes deutlich: Bei der stellvertretenden Problembearbeitung ist es erforderlich, nicht beabsichtigte Nebenwirkungen mitzubedenken, in diesem Fall die möglicherweise fehlende Einsicht und Akzeptanz anderer Schülerinnen in die bzw. der Sonderbehandlung Ilenias. Darüber hinaus verweist Schön darauf, dass jede Problembearbeitung eine vorläufige, hypothetische ist, deren tatsächliche Effekte sensibel über den „Back-talk“ der Situation erfasst werden müssen. Es lassen sich demnach kaum alle möglichen Nebenwirkungen einkalkulieren, so dass Offenheit für nicht Vorhersehbares notwendig ist und mögliche Modifizierungen vorzunehmen sind. Welche könnten das in der vorliegenden Situation sein? Zunächst scheint nahe liegend, dass Sonderbehandlungen im Rahmen von Gruppeninteraktionen immer Brisanz bergen. Diese könnte am ehesten durch entsprechende Transparenz entschärft werden, was jedoch im vorliegenden Beispiel angesichts der scheinbar nicht unproblematischen Gruppenkonstellation sowie der Gefahr, Ilenia bloßzustellen, durchaus schwierig erscheint.
Darüber hinaus stellt sich die Frage, ob die Lehrerin die Uneindeutigkeit der Situation und damit ihr Verständnis für Seddas Position noch deutlicher machen könnte. Vielleicht wäre auf dieser Basis nicht nur Seddas Einsichtsfähigkeit zu steigern, sondern auch der Blick der Lehrerin auf die Situation noch einmal erweitert.
Dies betrifft auch den Blick auf die eigene Rolle bei der Entstehung des Problems. Auch diese Rolle könnte insofern transparenter gemacht werden, als die Lehrerin auf ihre Beteiligung am Zustandekommen verweist, ohne Ilenia vor den anderen bloßzustellen. „Ich habe Ilenia erlaubt, sich auf die Bank zu setzen. Dabei war mir nicht ausreichend klar, dass ihr sie vielleicht überseht oder aber nicht wisst, dass sie trotzdem mitturnen will“.
Ob all diese Ansätze erfolgreich sind, muss selbstverständlich offen bleiben. Einen möglichen Gewinn sehe ich vor allem in der Erweiterung der Perspektive der Lehrerin und damit auch ihrer Handlungsoptionen. Wenn die Lehrerin einerseits mehr Verständnis für Seddas Position aufbringt, andererseits ihr eigenes (Mit-)Verursachen des Problems stärker ins Kalkül zieht, dann eröffnen sich vielleicht auch andere Interventionsmöglichkeiten, z.B. unter dem Fokus der Förderung von Kompromissfähigkeit. Dann stünde nicht mehr im Zentrum, dass Sedda den Anweisungen der Lehrerin nicht folgt, dass sie den Unterricht stört und boykottiert und es somit um die Durchsetzung der Autorität der Lehrerin geht. Nicht das Gewinnen des offenen Machtkampfes würde dann den Fokus der Lösungssuche bilden, sondern Einigungs- und Verständigungsmöglichkeiten. Eine nahe liegende Option wäre dementsprechend die Demonstration von Kompromissbereitschaft und –fähigkeit durch die Lehrerin und eben nicht die Demonstration von Macht. „Was hältst du davon, dass du diesmal vor Ilenia turnst, ab der nächsten Runde ist sie dann aber immer vor dir dran?“ Indem die Lehrerin Vorschläge zu einem möglichen Kompromiss unterbreitet, bestünde damit einerseits die Chance einer erfolgreichen Problembearbeitung, andererseits die Möglichkeit der erzieherischen Einflussnahme hinsichtlich Kompromissbe-reitschaft und –fähigkeit. Dies wird durch einen offenen Machtkampf von vornherein verhindert, wenn man berücksichtigt, dass es für die Kontrahen-tinnen dort primär darum geht, das Gesicht zu wahren. Ein wesentliches Ziel müsste also darin bestehen, den offenen Machtkampf zu verhindern, nicht ihn zu gewinnen.

aus Lüsebrink, I. (2006). Pädagogische Professionalität und stellvertretende Problembearbeitung. Ausgelegt durch Beispiele aus Schulsport und Sportstudium. Köln: Strauß.