Fall Nr. 109

 

„Ich bin die Lehrerin und für euch verantwortlich."

Schlüsselsatz: „Ich bin die Lehrerin und für euch verantwortlich."
Stufe: Sekundarstufe I
Bewegungsfeld: Spielen
Disziplin/Sportart: Fangspiel
Spezielle Themen: Sicherheit
Textsorte: Didaktischer Text

Fallbeschreibung:

Diese Situation findet in einem Sportunterricht statt, der von Mädchen aus einer Haupt- und Realschulklasse gemeinsam besucht wird. Die Lehrerin fordert die Schülerinnen auf, ein Aufwärmspiel zu spielen, das wie folgt abläuft: Eine Schülerin ist Fängerin. Sobald eine andere Schülerin gefangen wird, muss sich diese in Bauchlage auf den Boden legen. Wenn eine Spielerin (also nicht die Fängerin, sondern die „Gejagte“) sich direkt neben eine am Boden liegende Schülerin legt, ist diese Schülerin die neue Fängerin.
Die Mädchen aus der Hauptschule haben keine Lust zu spielen, sie quatschen und stehen lieber untereinander herum und laufen nicht mit. Doch die Lehrerin besteht darauf, worauf sich diese Schülerinnen absichtlich fangen lassen und sich auf dem Boden ausruhen. Die Lehrerin ermahnt sie mehrmals laut, was aber nicht zur Besserung führt, da die Mädchen immer noch liegen bleiben. Dann spielt die Lehrperson mit und legt sich gezielt neben diese Schülerinnen, die dann widerwillig aufstehen und in langsamen Schritten gehen. Die Lehrerin ermahnt die Schülerinnen nicht mehr und lässt das Spiel auf diese Weise weiterlaufen.
Plötzlich schreit ein Mädchen aus dieser Clique und rennt in die Umkleide, hinterher alle anderen Mädchen aus der Hauptschulklasse. Die Lehrerin kann die Schülerin gar nicht erreichen, um zu sehen, was passiert ist, weil ihr der komplette Gang von den herumstehenden Mädchen versperrt wird. Die Lehrerin fordert die Schülerinnen auf, wieder in die Halle zu gehen und zu warten. Die Schülerin gibt dann an, dass es ihr schlecht und schwindelig beim Spielen geworden ist.
Nachdem die Lehrerin mit dem kranken Mädchen geredet hat, versammeln sich alle Mädchen, auch das kranke, in der Mitte der Halle im Sitzkreis. Die Lehrerin ist sehr aufbrausend und wütend, weil alle Mädchen in die Umkleide gerannt sind und schreit die Mädchen sehr laut an. Eine Schülerin meint: „Das ist mir scheißegal. Wenn es meiner Freundin schlecht geht, muss ich zu ihr und schauen, wie es ihr geht. Wir machen immer alles zusammen, da lass ich sie bestimmt nicht im Stich.“
Die Lehrerin akzeptiert dies nicht und antwortet: „Ich bin die Lehrerin und für euch verantwortlich, wenn irgendetwas passiert, bin ich schuld. Also muss ich, wenn etwas passiert ist, sofort sehen, ob es schlimm ist und entsprechend handeln. Es bringt nichts, wenn ihr um sie herumsteht.“
Die Mädchen bekommen eine Strafarbeit und einen Eintrag ins Klassenbuch.


Fallinterpretation:
Sicherheitsaspekte, kooperatives Verhalten, Obhutspflicht:

Die Lehrerin stimmt den Sportunterricht mit einer Mädchenklasse der Sekundarstufe I mit einem Fangisspiel zum „Aufwärmen“ ein. Die Mädchen zeigen kein Interesse an diesem „Aufwärmspiel“ und demonstrieren durch ihr nonverbales Bewegungsverhalten und verbale Bemerkungen ihr Missfallen.
Plötzlich verlässt schreiend ein Mädchen die Turnhalle, weil es ihr von diesem Fangisspiel „Schlecht und schwindlig“ sei und begibt sich in die Garderobe. Die Klassenkameradinnen aus der Hauptschulklasse begleiten sie, sodass der Sportunterricht nicht weitergeführt werden kann.
Die Lehrerin ist in ihrer Obhutspflicht gefordert, versucht sich um das Mädchen mit dem „Schwindelanfall“ zu kümmern und redet mit ihr. Das “kranke“ Mädchen kommt mit den Kolleginnen in die Turnhalle zurück, wo sie sich in der Mitte in den Sitzkreis setzen.
Das Lernklima ist sehr angespannt, die wütende Lehrerin tadelt die Schülerinnen aus der Hauptschulklasse und bestraft sie mit einer Strafarbeit und dem Eintrag in das Klassenbuch.

Ich finde es richtig, dass die sportunterrichtende Lehrerin auf ihrer Obhutspflicht beharrt und deutlich macht, wer die Verantwortung im Sportunterricht trägt.

Was umfasst bezüglich der Sicherheit die Obhutspflicht der Lehrkraft im schulischen Sportunterricht?

Die Lehrkraft ist verantwortlich für die körperliche und psychische Unversehrtheit der Anvertrauten Schüler. Die Schule und die Lehrpersonen haben eine sogenannte „Garantenstellung“ gegenüber dem Kind (ihm darf nichts zustossen).
Zudem sind Lehrpersonen auch für Schäden mitverantwortlich, die ihre Schülerinnen und Schüler aus Absicht oder Fahrlässigkeit verursachen, wenn man der Lehrkraft nachweisen kann, dass sie die Schüler nicht genügend beaufsichtigt haben (Art. 333 ZGB)

Einige Kantone haben für den Sportunterricht in der Schule weiterführende Richtlinien erlassen. (Siehe Literaturhinweise)

Die Lehrerin hat in der Sache also richtig und konsequent gehandelt, indem sie sofort den Sportunterricht unterbrach und sich um die „kranke“ Schülerin kümmerte.
Der emotionalen Sicherheit der Schülerinnen und dem kooperativen, bewegungsfreudigen Lernklima war aber die aufbrausende und wütende Reaktion der Lehrerin eher abträglich.

Die verbal unglückliche Reaktion der Schülerin bezüglich der „Kameradschaftspflicht „: Das ist mir scheissegal, wenn es meiner Freundin schlecht ist, muss ich sehen, wie es ihr geht, ich lasse sie nicht im Stich “, hätte als Diskussionsgrundlage für eine kooperativere Konfliktlösung dienen können. Eine Reflexionsphase mit dem Einbezug der Bedürfnisse der Schülerinnen hätte eventuell die Unterrichtsituation entspannt?

Der Fall zeigt aber auch deutlich auf, wie belastend sich unmotivierte Schülerinnen auf den Sportunterricht auswirken können.

Das von Lehrkräften und Schülern mit Selbstverantwortung und Empathie getragene Lernklima ist für den Sportunterricht in der Schule eine wichtige Stütze der Bewegungs- und Handlungssicherheit. Die Klarheit der Kommunikation bezüglich Regeln, Gesetze und Aufgaben im Sportunterricht in der Schule dient der Interaktionssicherheit von Lernenden und Lehrenden.
Der Einsatz von altersgerechten Sozialformen wie Partnerarbeit und delegierter Auftrag kann das Risikomanagement der Lehrenden und Lernenden unterstützen.

Eine Studie von J. C. Vuille und MitarbeiterInnen (2004) zeigt die Bedeutung des Lernklimas für die Gesundheitsförderung in der Schule, gerade für die Sekundarstufe I, exemplarisch auf.


Literatur:
LCH Merkblatt; Haftpflicht und Verantwortung, LCH Sekretariat, Ringstrasse 54 , 8057 Zürich
Sicherheit im Schulsport, Sportangebote mit erhöhtem Risiko, Bildungs- und Kulturdepartement Obwalden, Abteilung Sport 2007 www.sport.ow.ch
Empfehlungen der Erziehungsdirektion des Kantons Bern für die Durchführung von Sportaktivitäten im Freien an Volksschulen und allen Schulen der Sekundarstufe II
Jean-Claude Vuille et al.(2004) Die gesunde Schule im Umbruch, Ruegger, Zürich
Orientierungshilfen: www.bfu.ch

Empfehlungen / Beratung:
Fernand Firmin Dr. phil. Sportpädagoge und Sport Safety Coach im Auftrag der bfu, Klusstrasse 18, 3150 Schwarzenburg, Email; ferdy.firmin@bluewin.ch