Fall Nr. 19

 

Handstandüberschlag

Schlüsselsatz: "Dann müssen wir ja schon bei der Schwierigsten beginnen."
Stufe: Sekundarstufe II
Bewegungsfeld: Bewegen an Geräten
Disziplin/Sportart: Minitramp
Inhalte präsentieren: Üben und Trainieren
Textsorte: Didaktischer Text

Fallbeschreibung:

10. Klasse Gymnasium, 17 Schülerinnen.

Thema der Stunde: Handstandüberschlag. Einführende Übungen wurden in der letzten Stunde bereits geturnt. Ziel der heutigen Stunde ist es dort weiterzufahren.

Nach dem Aufwärmen und einigen Spannungsübungen, teilt der Lehrer die Klasse in 4 Gruppen und erteilt jeder Gruppe den Auftrag verschiedene Geräte aufzustellen. Der Lehrer gibt während dem Aufstellen diverse Anweisungen, insbesondere was die Platzwahl und die Zusammenstellung der Geräte betrifft. Am Schluss stehen folgende Stationen in der Halle:
1. Station: Ein Minitramp (MT) steht vor einem quergestellten Schwedenkasten. Zwischen Kasten und Hallenwand ist eine dicke Weichmatte hochgestellt und eingeklemmt. 2. Station: Ein MT steht vor einem quergestellten Schwedenkasten, dahinter liegt eine dicke Matte am Boden. 3. Station: Vier dünne Matten sind zu einem Mattenteppich zusammengefügt (Akkrostation). 4. Station: Auf zwei Langbänken, parallel und eng zusammen, liegt eine Mattenbahn aus dünnen Weichmatten. Am Ende der Anlage liegt eine mitteldicke Weichmatte am Boden.
Die Schülerinnen werden zusammengerufen und der Lehrer erklärt die Aufgaben der 4 Stationen. "Die Gruppen, die das Trampolin aufgestellt haben, können an beiden Stationen turnen". Der Lehrer zeigt die Übung kurz vor. (Federn auf dem MT bis zum Handstand gegen die dicke Matte.) Lehrer: "Die zweite Station genau gleich: Überschlag mit Hilfe." (Pause) "Zwei stellen sich neben den Kasten und stehen Hilfe". Der Lehrer turnt die Übung wiederum einmal vor. "Ihr wisst, wie man Hilfe steht, also sind immer zwei Schülerinnen neben dem Kasten. Diejenigen, welche die Akkrobatikstation aufgestellt haben, turnen dort unten", der Lehrer zeigt auf die dünnen Matten, "und die anderen, welche diese Station aufgestellt haben, versuchen auch den Überschlag, mit mir". Er zeigt auf die Langbänke. Der Lehrer erklärt der Akkrobatikgruppe nochmals ihre Aufgabe und weist auf eine Broschüre hin, in welcher verschiedene Übungen aufgeschrieben sind.
Während der Erklärung fragt eine Schülerin der zweiten Station, ob sie die Station wechseln darf. Der Lehrer antwortet: "Nein."
Schülerin: "Dann müssen wir ja schon bei der Schwierigsten beginnen."
Lehrer: "Welches ist die Schwierigste?"
Eine zweite hinzugekommene Schülerin zeigt auf die Station Handstandüberschlag mit Hilfe: "Die ist aber höllisch schwierig!"
Lehrer: "Zwischen den beiden Trampolin-Stationen dürft ihr auswählen."
Er begibt sich zur Station mit den Langbänken, wo allerdings keine Schülerinnen anzutreffen sind. Der Lehrer ruft laut in die Halle (die meisten Schülerinnen befinden sich bei den Trampolin-Stationen: "Alle, die die Langbänke aufgestellt haben, kommen hierher!" Die Schülerinnen reagieren nicht. "Sabine komm!" Keine Reaktion. "Sandra, wer war noch mit dir zusammen?" Unterdessen verlassen einige Schülerinnen der Akrostation den Platz und schliessen sich der MT-Gruppen an. Eine Schülerin fragt, ob sie die Übung statt auf dem Kasten, ohne MT und ohne Kasten gegen eine Wand machen darf. Der Lehrer erlaubt dies.
Unterdessen haben sich doch 4 Schülerinnen für die Langbankstation gefunden. Der Lehrer erklärt eine Vorübung am Boden (Handstandwegdrücken) und zeigt sie gleich vor. Während die 4 Schülerinnen üben, fragt eine andere Schülerin, ob sie dort, wo sie die Geräte aufgestellt hat, bleiben muss. Der Lehrer antwortet mit ja. Andere fragen ihn, ob er nicht hilfestehen kann beim Handstandüberschlag. "Nein, ihr könnt euch selbst halten."
Lehrer: "Sabine komm." Sie hat unterdessen wieder die Station gewechselt. Die Langbankgruppe wechselt nun von der Vorübung zur eigentlichen Aufgabe: Handstandüberschlag mit Anlauf von den Langbänken auf eine mitteldicke Matte. Eine Schülerin zeigt es vor, der Lehrer und eine weitere Schülerin stehen Hilfe. Bereits bei der dritten Schülerin, die an die Reihe kommt handelt es sich um eine Gruppenfremde.
Lehrer: "Du bist von einer anderen Gruppe?"
Schülerin. "Ja."Lehrer: "Also gut."


Fallinterpretation:
Die Stunde verläuft nicht so, wie es sich der Lehrer vorgestellt hat. Die Schülerinnen haben sich ständig über seine Anweisungen hinweg gesetzt (e,f). Daneben wird er öfters mit organisatorischen Fragen bestürmt (d, f). Er versucht, diesen Abweichungen von seiner Planung zuerst mit seiner Autorität zu begegnen. So verbietet er einer Schülerin die Stationen zu wechseln (d). Als er merkt, dass seine Anweisungen doch nicht befolgt werden (g), schwenkt er (resigniert) auf die Schülervorschläge ein (g). Was hat er falsch gemacht? Wo sind die Probleme zu suchen?
Die Schülerinnen zeigen durch ihr Verhalten deutlich, dass sie in der Lage wären den Schwierigkeitsgrad der verschiedenen Stationen selbst einzuschätzen. Einerseits beweist die Schülerin mit der Äusserung "beim Schwierigsten", dass sie eine subjektive Einschätzung der Schwierigkeiten bereits vollzogen hat (d). Andererseits haben die Schülerinnen in der letzten Stunde bereits an den selben Stationen geturnt und können somit aus den gemachten Erfahrungen profitieren. Nicht zu unterschätzen ist die Frage der einen Schülerin, ob sie eine eigene Station aufbauen darf (e). Auch sie beweist sehr anschaulich, wozu diese Schülerinnen fähig sind. Durch die restriktive Anordnung des Lehrers, nur an der aufgestellten Station zu turnen, schränkt er die "Bewegungsfreiheit" der Schülerinnen unnötig ein. Dass sie sich letztendlich über diese Anweisungen hinwegsetzen, kann nur positiv gewertet werden. Sie können somit individueller und ihrem Schwierigkeitsniveau entsprechend üben. Weil sie bereits in der zweiten Stunde an den gleichen Stationen trainieren, ist eine Leistungsdifferenzierung sowieso von Vorteil.
Die verhältnismässig kleine Klasse lässt eine Leistungsdifferenzierung ohne organisatorische Engpässe zu, vor allem weil durch die Zusatzstation "Akrobatik" solche Engpässe überbrückt werden könnten. Die Resignation des Lehrers ist unverständlich. Wenn er die Frage nach der schwierigsten Aufgabe ernst meint (d) , so glaubt er ja auch daran, dass es individuelle Unterschiede gibt. Deshalb sollte ihn der berechtigte Wunsch mit einer einfacheren Übung zu beginnen auch nicht stören.
Bei einer offeneren Gestaltung des Stationenbetriebs hätte der Lehrer die Möglichkeit an der Station Hilfe zu stehen, wo er gerade benötigt wird. Der Hinweis an der Minitrampolinstation selbständig Hilfe zu stehen, überfordert die Helfer wie auch die turnerinnen. Gerade auch die helfende Person (Mitschülerin oder Lehrer) kann bestimmend dafür sein, ob die Station von einer Schülerin als schwierig oder einfach eingestuft wird.
Könnten die Schülerinnen in dieser Stunde über die Reihenfolge der Stationen selbst bestimmen, so könnte die Effizienz des Lernens erhöht werden, ohne dass der Lehrer seine inhaltliche Zielsetzung verlassen müsste.