Fall Nr. 78

 

Geräteturnen

Schlüsselsatz: Ein Mädchen fragt ihn, ob sie nicht noch etwas länger Geräteturnen dürfen.
Stufe: Sekundarstufe I
Bewegungsfeld: Bewegen an Geräten
Disziplin/Sportart: Sportunterricht
Mit Schüler*innen interagieren: Beobachten – Beurteilen – Korrigieren und Feedback geben
Textsorte: Didaktischer Text

Fallbeschreibung:

(a) 8. Schuljahr, Sekundarschule. Die Mädchen (5) und Knaben (10) sind bereits gut aufgewärmt. Nach einem turbulenten Aufstellen der Geräte versammelt der Lehrer die Schüler und Schülerinnen in der Mitte der Halle. Er erklärt die Aufgaben für das folgenden Geräteturnen: " Ihr habt verschiedene Geräte zur Auswahl: Reck, Barren, resp. Stufenbarren und Kasten mit einem Minitrampolin. Ihr könnt nun in Zweier- oder Dreiergruppen an diesen Geräten turnen und zwar Elemente, die ihr bereits kennt. Ich habe euch noch ein paar Ideen aufgeschrieben." Er beschreibt kurz für jedes Gerät, was er sich notiert hat und legt diese A 4 - Blätter anschliessend zu jeder der 3 Stationen. An jeder Station soll ca. 8 Minuten geübt werden. Der Lehrer verteilt die Schüler und Schülerinnen auf die verschieden Geräte auf. "Und ihr drei," der Lehrer wendet sich drei Knaben zu, "stellt endlich den Stufenbarren auf".
(b) Am Reck (5 Mädchen) herscht bereits emsiges Treiben. Auch am Parallelbarren versuchen drei Knaben verschiedene Schwungformen, während 5 weitere Knaben an den Minitrampolins turnen. Der Lehrer wendet sich kurz zu den Mädchen am Reck und erklärt ein Element.
(c) Anschliessend widmet er sich einer Trampolingruppe. Er macht mit ihnen ein Aufrollen auf den längsgestellten Kasten. Danach begibt er sich kurz zu den 3 Knaben am Parallelbarren, bevor er auch mit der zweiten Minitrampolin-Gruppe das Aufrollen auf den Kasten übt. Die Mädchen turnen währenddessen schon sehr anspruchsvolle Elemente am Reck. Nachdem die restlichen 3 Knaben endlich den Stufenbarren aufgestellt haben, hocken sie gelangweilt auf dem Stufenbarren herum.
(d) Der Lehrer pfeift und lässt die Stationen wechseln. Anschliessend hilft er kurz einer Mädchengruppe am Minitrampolin, bevor er sich der zweiten Gruppe (nur Knaben) am Minitramp widmet. Weil einer der Knaben die Übung (Aufrollen auf den Kasten, ohne Anlauf, nur mit Federn) nicht begreift, ruft er ein Mädchen zu sich, das die Übung einmal vorturnt. Eine weitere Knabengruppe spielt mit einem Basketball, statt am Stufenbarren zu turnen, der Lehrer ignoriert es. Nach dem Minitramp wendet er sich einer weiteren Knabengruppe zu, die am Reck turnt.
(e) Während des letzten Wechsels muss er drei Schüler aus dem Geräteraum holen, weil sie sich dort versteckt haben. Anschliessend kümmert er sich um 3 Knaben, die am Reck turnen. Dazwischen muss er einzelne Knaben immer wieder auffordern den Basketball wegzulegen. Plötzlich entdeckt er 3 Knaben, die die Minitrampanlage verändert haben. Er fordert sie aus Sicherheitsgründen auf, die Station wieder herzustellen. Nur kurz kann er sich einer Mädchengruppe zuwenden (die Mädchen turnen sehr intensiv am Stufenbarren), weil die erwähnte Trampolingruppe seine Aufmerksamkeit erneut erfordert: die Knaben haben die Laufrichtung gewechselt und springen nun vom Trampolin direkt auf den Boden (ohne Weichmatte). Er unterbricht diese Gruppe beim "Üben" und weist sie auf die Gefahr ihres Tun hin.
(f) Der Lehrer pfeifft erneut und lässt die Geräte wegräumen und kündigt ein Basketballspiel an. Ein Mädchen fragt ihn, ob sie nicht noch etwas länger Geräteturnen dürfen.
Lehrer: "Nein, ich möchte dass, diejenigen, die gerne Spielen auch noch zum Zuge kommen."


Fallinterpretation:
Während der ganzen Stunde ist die Aufmerksamkeit des Lehrers den Knaben gewidmet. Die Knaben müssen immer wieder diszipliniert werden (a, e) oder erfordern sonst die Aufmerksamkeit des Lehrers: Sie langweilen sich teilweise mit der Aufgabe (c, d) oder sind sonstwie mit der Aufgabe überfordert (d). Oder sie erfordern das Eingreifen des Lehrers, weil sie elementare Sicherheitsbestimmungen überschreiten (e). Ganz anders verhalten sich die Mädchen. Sie turnen diszipliniert und eifrig an den Geräten (c, e). Sie versuchen sich auch schon mit sehr anspruchsvollen Elementen, während einzelne Knaben schon mit sehr einfachen Übungen (d) überfordert sind. Der Lehrer lässt darum eines der Mädchen die Übung vorturnen, was isoliert betrachtet sehr lobenswert wäre. Im Kontext der Stunde gesehen, wird das Mädchen als Hilfskraft benützt, ohne selbst einmal in den Genuss einer Rückmeldung zu kommen. Auch die anderen Mädchen erhalten - mit einer Ausnahme (d) - kein Feedback des Lehrers, obwohl ihre Leistungen dies verlangen würden.
Die Mitbestimmungsmöglichkeiten der Schüler treten hier in Konkurrenz mit einem anderen pädagogischen Paradigma: Im koedukativen Unterricht muss sowohl den Mädchen, als auch den Knaben die gleiche Aufmerksamkeit geschenkt werden. Weil in diesem geschilderten Fall die Mädchen ganz deutlich zu kurz kommen, sollte einem strukturierten Unterricht den Vorzug gegeben werden. Die Knaben sind mit der offenen Aufgabenstellung (inhaltliche Mitbestimmung) überfordert. Sie nützen die Gelegenheit, um die disziplinarischen Grenzen des Unterrichts zu "erforschen".
Der Wunsch einiger Mädchen mit dem Geräteturnen fortzufahren ist verständlich. Ihnen macht es offensichtlich Spass "mit Elementen, die sie kennen" an den verschiedenen Geräten zu turnen. Die Antwort des Lehrers (f) auf die Frage ist daher im Grunde genommen widersprüchlich. Wer ist in dieser Stunde bis jetzt "zum Zuge gekommen"? Wahrscheinlich wollen die selben (Knaben) spielen, die während des ganzen Geräteturnens die Aufmerksamkeit des Lehrers verlangt haben. Somit werden mit dem Basketballspiel die Wünsche der gleichen Schüler berücksichtigt, die bereits im Geräteturnen den Vorrang hatten.