Fall Nr. 76

 

Aufwärmen

Schlüsselsatz: "Was die meisten von euch machen ist Stretching. Gymnastik ist ..."
Stufe: Sekundarstufe I
Bewegungsfeld: Bewegen an Geräten
Disziplin/Sportart: Sportunterricht
Inhalte präsentieren: Erklären
Spezielle Themen: Sicherheit
Textsorte: Didaktischer Text

Fallbeschreibung:

(a) 7. Schuljahr, Sekundarschule, 16 Schülerinnen. Thema der Stunde: Geräteturnen. Einige Geräte sind bereits aufgestellt, als die Schülerinnen nach und nach die Halle betreten. Beim Eingang sind verschiedene Aufgabenblätter aufgelegt, wo sich die Schülerinnen über das Angebot der heutigen Stunde informieren können (sie arbeiten nach einer Art Wochenplan). Sie sprechen sich mit der Lehrerin ab, welches Gerät sie heute wählen und beginnen mit dem Aufstellen der restlichen Geräte.
(b) Nachdem alle Schülerinnen in der Halle eingetroffen sind (einige turnen bereits an den Ringen), erklärt die Lehrerin das weitere Vorgehen: "Für das Aufwärmen habe ich euch ein Plakat vorbereitet (sie zeigt auf das Plakat): 1. Laufen, 2. Gymnastik, 3. Dehnen, 4. Hüpfen. Mit den Ziffern sind Musikstücke gemeint." Die Schülerinnen sollen selbständig zur Musik einlaufen, d.h. selbständig Variationen zu den betreffenden Formen finden. Einzige Einschränkung: die Geräte sollen gemieden werden.
(c) Während die Schülerinnen zur Musik laufen, stellt die Lehrerin noch fehlende Geräte auf. Die Variationen sind eher dürftig, die meisten laufen in einem grossen Kreis, vereinzelt sieht man ein Armkreisen. Nach dem ersten Musikstück setzen sich die meisten Schülerinnen auf eine der herumliegenden Matten und machen verschiedene Dehnübungen.
(d) Erst spät bemerkt die Lehrerin den Fehler der Schülerinnen (sie ist im Geräteraum beschäftigt). Sofort unterbricht sie die Musik und macht die Schülerinnen auf den Unterschied zwischen Gymnastik und Stretching aufmerksam: "Was die meisten von euch machen, ist Stretching. Gymastik ist mit Bewegung verbunden, Schwungteile z.B. (sie schwingt mit den Armen). Es sollten alle Gelenke mal etwas bewegt werden. Und erst nach dieser Musik könnt ihr dann stretchen."
(e) Mit dem erneuten Einsetzen der Musik beginnen die meisten Schülerinnen mit Armschwingen. Einzelne versuchen noch ein Kreisen mit den Beinen und ein Hüftkeisen. Die meisten variieren jedoch ihre Bewegungen kaum und verbleiben beim Armschwingen oder bewegen sich fast nicht. Von einer Aufwärmgymnastik kann nicht die Rede sein.
(f) Nicht so beim anschliessenden Stretching und Hüpfen. Die Variantenvielfalt ist gross, ebenso die Intensität der Übungen.


Fallinterpretation:
Interpretation 1:
Wir können davon ausgehen, dass die Schülerinnen das Arbeiten mit offenen Konzepten gewohnt sind. Dies zeigt einerseits der Wochenplan (a), mit dem sie nach dem Aufwärmen arbeiten werden und andererseits auch ihr Verhalten bezüglich der Themen Stretching und Hüpfen (f). Die Lehrerin kann mit diesen Voraussetzungen ruhig die restlichen Geräte aufstellen, ohne dass die Schülerinnen untätig herumstehen würden. Das Problem stellt sich allerdings im Zusammenhang mit der Gymnastik. Offensichtlich wissen die Schülerinnen nicht, was mit diesem Begriff gemeint ist. Auch die Erklärungen helfen ihnen nicht viel weiter, sie machen einfach das, was die Lehrerin vorgezeigt hat (e).
Warum verhalten sich die Schülerinnen gerade bei der Gymnastik so unsicher, während sie bei allen anderen Formen eine relativ grosse Variantenvielfalt zeigen (mit Ausnahme des Laufens)? Sicher ist die Gymnastik von den gegebenen Formen die Schwierigste. Unter Laufen und Hüpfen können sich alle etwas vorstellen und kennen verschiedene Möglichkeiten. Bei der Gymnastik wird dies schon schwieriger: Für die Schülerinnen gibt es keinen Unterschied zum Stretching, deshalb stretchen auch fast alle bei Punkt 2 (c).
Eine einfache Antwort wäre zu finden, indem man den offenen Unterricht einfach durch Frontalunterricht ersetzen würde, da die Schülerinnen in diesem Alter mit einer Aufwärmgymnastik offensichtlich überfordert sind. Ich möchte mich dieser Auffassung nicht anschliessen. Im Gegenteil: Gerade die Gymnastik ist eine gute Möglichkeit Phantasie und Kreativität ins Spiel zu bringen. Der Fehler ist allerdings nicht in dieser Stunde zu suchen. Die Schülerinnen sind überfordert, weil sie über keine Kenntnisse zur Gymnastik verfügen; obwohl sie den Sportunterricht bereits seit 7 Jahren besuchen und sich sicher schon oft mit Gymnastik aufgewärmt haben. Allerdings war dies offensichtlich ein reines Vormachen - Nachmachen ohne Reflexion oder weiterführende Erklärungen.
Die Lehrerin müsste sich also in dieser Stunde ausführlicher mit dem Problem auseinandersetzten, wenn sie das Aufwärmen in Zukunft wieder offen gestalten möchte. Dies könnte ohne weiteres auf Kosten des anschliessenden Geräteturnens erfolgen. Ich sehe eine intensive Auseinandersetzung mit der Gymnastik, resp. mit dem Problem des Aufwärmens nicht als Zeitverlust. Mit Hilfe verschiedener Beispiele könnte die Lehrerin zweckmässige von unzweckmässigen Formen trennen, könnte auf schädliche Formen hinweisen und anhand verschiedener Musikstücke den Zusammenhang mit dem Rhythmus aufzeigen.
In einer weiteren Stunde könnte sie das Aufwärmen teilweise vorgeben und teilweise die Schülerinnen die Formen selbst finden lassen. Sie könnte auf geeignete Formen einzelner Schülerinnen verweisen, um sie dann in einem weiteren Schritt das Aufwärmen selbst bestimmen zu lassen. Gerade weil es sich beim Aufwärmen nur um ein Mittel zum Zweck handelt, besteht hier eine gute Möglichkeit einer weitgehenden Mitbestimmung der Schülerinnen.


Interpretation 2:
Wir können davon ausgehen, dass die Schülerinnen das Arbeiten mit offenen Konzepten gewohnt sind. Dies zeigt einerseits der Wochenplan (a), mit dem sie nach dem Aufwärmen arbeiten werden und andererseits auch ihr Verhalten bezüglich der Themen Stretching und Hüpfen (f). Die Lehrerin kann mit diesen Voraussetzungen ruhig die restlichen Geräte aufstellen, ohne dass die Schülerinnen untätig herumstehen würden. Das Problem stellt sich allerdings im Zusammenhang mit der Gymnastik. Offensichtlich wissen die Schülerinnen nicht, was mit diesem Begriff gemeint ist. Auch die Erklärungen helfen ihnen nicht viel weiter, sie machen einfach das, was die Lehrerin vorgezeigt hat (e).
Warum verhalten sich die Schülerinnen gerade bei der Gymnastik so unsicher, während sie bei allen anderen Formen eine relativ grosse Variantenvielfalt zeigen (mit Ausnahme des Laufens)? Sicher ist die Gymnastik von den gegebenen Formen die Schwierigste. Unter Laufen und Hüpfen können sich alle etwas vorstellen und kennen verschiedene Möglichkeiten. Bei der Gymnastik wird dies schon schwieriger: Für die Schülerinnen gibt es keinen Unterschied zum Stretching, deshalb stretchen auch fast alle bei Punkt 2 (c).
Eine einfache Antwort wäre zu finden, indem man den offenen Unterricht einfach durch Frontalunterricht ersetzen würde, da die Schülerinnen in diesem Alter mit einer Aufwärmgymnastik offensichtlich überfordert sind. Ich möchte mich dieser Auffassung nicht anschliessen. Im Gegenteil: Gerade die Gymnastik ist eine gute Möglichkeit Phantasie und Kreativität ins Spiel zu bringen. Der Fehler ist allerdings nicht in dieser Stunde zu suchen. Die Schülerinnen sind überfordert, weil sie über keine Kenntnisse zur Gymnastik verfügen; obwohl sie den Sportunterricht bereits seit 7 Jahren besuchen und sich sicher schon oft mit Gymnastik aufgewärmt haben. Allerdings war dies offensichtlich ein reines Vormachen - Nachmachen ohne Reflexion oder weiterführende Erklärungen.
Die Lehrerin müsste sich also in dieser Stunde ausführlicher mit dem Problem auseinandersetzten, wenn sie das Aufwärmen in Zukunft wieder offen gestalten möchte. Dies könnte ohne weiteres auf Kosten des anschliessenden Geräteturnens erfolgen. Ich sehe eine intensive Auseinandersetzung mit der Gymnastik, resp. mit dem Problem des Aufwärmens nicht als Zeitverlust. Mit Hilfe verschiedener Beispiele könnte die Lehrerin zweckmässige von unzweckmässigen Formen trennen, könnte auf schädliche Formen hinweisen und anhand verschiedener Musikstücke den Zusammenhang mit dem Rhythmus aufzeigen.
In einer weiteren Stunde könnte sie das Aufwärmen teilweise vorgeben und teilweise die Schülerinnen die Formen selbst finden lassen. Sie könnte auf geeignete Formen einzelner Schülerinnen verweisen, um sie dann in einem weiteren Schritt das Aufwärmen selbst bestimmen zu lassen. Gerade weil es sich beim Aufwärmen nur um ein Mittel zum Zweck handelt, besteht hier eine gute Möglichkeit einer weitgehenden Mitbestimmung der Schülerinnen.

Sicherheits- und Präventionsaspekte;

Der offene Unterricht ermöglicht den Schülerinnen der Sekundarstufe I ihre bereits bekannten und weitgehend internalisierten Übungen aus dem Bereich des Laufens und Hüpfens in der „Komfortzone des Könnens “ für das persönliche Aufwärmen abzurufen. Etliche Stretchingübungen kennen sie vermutlich aus den persönlichen Sporttrainings in den Sportvereinen.
Im Bereich der Gymnastik als Bewegungs- und Haltungsschulung sind sie offensichtlich unsicherer und brauchen für die eigene Bewegungssicherheit im sportiven Handeln differenzierte Kenntnisse bezüglich der Wirkung einzelner Gymnastikübungen auf den Bewegungsapparat (muskulär und neurologisch) und die Innenorgane (Atmung und Herzkreislauf). Für den Erwerb dieser Kenntnisse und Fertigkeiten ist ein durch die sportunterrichtende Lehrerin geleitetes Gymnastikangebot in der „Lernzone“ notwendig. In diesem professionellen Gymnastikiunterricht können die Schülerinnen sorgfältig und schrittweise zu den sportartspezifischen Gymnastikübungen angeleitet und generell mit weiterführenden Gymnastiksystemen bekannt gemacht werden.
Neben der Bewegungs-und Haltungsschulung erreichen wir mit einem vertieften Gymnastikunterricht im schulischen Sportangebot auch ein verfeinertes Körpergefühl. Gerade für die Entwicklung des persönlichen Körperbildes junger Frauen kann ein achtsames, körperbewusstes Bewegen einen wertvollen Beitrag leisten. Viele junge Frauen in der Pubertäts- und Adoleszenzphase sind mit ihrem Körper unzufrieden und leiden unter einem negativen, teilweise gestörten Körperbild. Dieser Trend wird auch vermehrt bei jungen Männern beobachtet.

Da das „Aufwärmen“ helfen soll, präventiv den Sportunfall, vor allem die Stürze, Muskelzerrungen und Blessuren zu verhindern, ist der Gymnastik unbedingt die notwendige, trainingswissenschaftlich belegte Bewegungszeit einzuräumen. Durch ergänzende Gleichgewichtsschulung und Falltraining erbringen wir auch einen wichtigen Beitrag für die Sturzprophylaxe im Freizeitsport. Stürze sind auch ausserhalb des Sportgeschehens die häufigste Unfallursache.

Wenn es zudem gelingt, im „Aufwärmen“ auch eine psychosoziale Einstimmung für ein kooperatives, bewegungsfreudiges Lernklima zu fördern, ist für die Unversehrtheit der Schülerinnen im Sportunterricht schon viel gewonnen. (vgl. die Studie von J.C. Vuille et al. 2004 bezüglich der Bedeutung des Lernklimas in der Gesundheitsförderung in der Schule)

Mit Entspannungs- und Stretchingübungen kann im Ausklang des schulischen Sportunterrichts wieder beruhigend auf das psychophysische Erregungsniveau der Schülerinnen eingewirkt werden, sodass die sozialen Begegnungen in der Pause und der nachfolgende schulische Unterricht bezüglich der Aufmerksamkeit davon profitieren kann.

Orientierungshilfen: www.bfu.ch
Unterrichtsblätter zur Sicherheitsförderung Safety Tool Nr. 9 Stürze

Literatur:
Jean-Claude Vuille et al.(2004) Die gesunde Schule im Umbruch, Ruegger, Zürich

Empfehlungen / Beratung:
Fernand Firmin Dr. phil. Sportpädagoge und Sport Safety Coach im Auftrag der bfu, Klusstrasse 18, 3150 Schwarzenburg, Email; ferdy.firmin@bluewin.ch