Fall Nr. 99

 

Alleine klar kommen

Schlüsselsatz: „Ach, du meine Güte! Könnt ihr noch nicht mal vernünftig alleine klar kommen?“
Stufe: Primarstufe
Bewegungsfeld: Spielen
Disziplin/Sportart: Fußball; Linienfangen
Spezielle Themen: Sicherheit
Textsorte: Didaktischer Text

Fallbeschreibung:

In der 3.Klasse einer Grundschule im sozialen Brennpunkt sind 16 Jungen und 12 Mädchen. Die Kinder haben bei einer Fachkraft Sport, die die Klasse außerdem noch in Mathematik unterrichtet. Alle anderen Fächer werden von der Klassenlehrerin unterrichtet.
Ein Schüler der 3.Klasse hatte einen komplizierten Armbruch und wurde daran operiert. Er hat einen Gipsverband, der den Arm vom Körper abspreizt. Der Schüler kommt an diesem Tag zum ersten Mal in die Schule nach seinem Krankenhausaufenthalt. Die Klasse hat in der zweiten Stunde Sport, der Schüler betritt die Halle mit den anderen Kindern. Die Lehrkraft versammelt die Kinder auf die am Rande der Sporthalle stehenden Sitzbänke und erklärt, dass in dieser Stunde Fußball gespielt wird. Die Mannschaften werden eingeteilt, die Regeln erklärt. Paul, der verletzte Schüler, möchte mitspielen. Die Lehrerin weist ihm die Rolle des Schiedsrichters zu.
Die Kinder verteilen sich auf dem Spielfeld und beginnen zu spielen. Der Schiedsrichter-Junge bekommt von der Lehrerin eine Trillerpfeife. Die Lehrerin verlässt das Spielfeld und beginnt im benachbarten Geräteraum nach Materialien für den weiteren Verlauf des Sportunterrichts zu suchen. Sie wendet der Klasse den Rücken zu.
Als die Kinder sich nicht auf die Entscheidung des Schiedsrichter- Jungen einlassen können, fragen sie die Lehrerin um Hilfe: „Frau Müller, Frau Müller, der Paul pfeift nicht richtig. Der Ball war gar nicht aus und das Foul hat er auch nicht gesehen!“
Die Lehrerin dreht sich um und sagt unwirsch zu den Kindern: „Ach, du meine Güte! Könnt ihr noch nicht mal vernünftig alleine klar kommen?“
Sie verlässt den Geräteraum widerwillig, macht eine abwertende Handbewegung in Richtung der Kinder und hat einen unfreundlichen Gesichtsausdruck. „Wenn ihr noch nicht mal in der Lage seid, vernünftig Fußball zu spielen, dann hören wir jetzt eben damit auf. Das habt ihr euch dann selbst zu zuschreiben.“
Sie bricht das Spiel mit einem Pfiff ab und fordert die Kinder auf, in den Mittelkreis zu kommen. Hier erläutert sie noch einmal für alle, warum sie das Spiel abgebrochen hat. Sie zeigt sich ungehalten darüber, dass das nicht besser geklappt hatte.
Einige Kinder meinen: „Wir waren das doch gar nicht, aber wenn der Paul nicht richtig pfeift, dann ist das ungerecht. Er hat gar nicht gesehen, dass der Ball aus war!“
„Dafür habt ihr uns gefoult!“
Die Lehrerin: „Schluss, jetzt. Das ist jetzt ganz egal. Wir machen jetzt Linienfangen!“
Die Kinder gehen unter Protest und Unmutsäußerungen auf die Linien. Paul nimmt trotz des Gipsarms am Linienfangen teil, ohne dass die Lehrerin ihn auffordert, sich auf die Bank zu setzen.


Fallinterpretation:
Interpretation 1: Sina Marie Ruess, Studentin Lehramt Primarstufe, PH Freiburg
Nach Ehni (2003) versteht man unter „spielen“ eine Handlung, die „auf der Außenseite die objektiven Gebilde der Spiele und auf der Innenseite die Subjektivität bzw. Individualität des „Spielers“ hervor[bringt]“ (S.299). „Spiele sind die unterscheidbaren individuellen und kulturellen Produkte menschlicher Spielhandlungen [und] halten den Prozess des Spielens in Form von Spielideen, Spielzielen und Spielregeln fest“ (ebd.: 300).
Beim Sportspiel geht es nur darum, nach Regeln zu spielen, während beim Spiel nach und mit Regeln gespielt wird. Das heißt, dass Spiele Gelegenheiten geben, um Fähigkeiten, die wenig beherrscht werden, unter veränderten Bedingungen durchzuführen. Es stärkt das Selbstvertrauen der Schüler, indem sie ihr Können unter diesen Bedingungen erleben (vgl. Kolb 2005a). Dies führt dazu, dass im Spiel „Sicherheiten aufgegeben und neue Herausforderungen gesucht“ (ebd.: 28) werden. „Das Sportspiel [hingegen] stellt ein konkurrenzorientiertes Spiel dar“ (ebd.: 27) und im Vordergrund steht das Vergleichen zweier Spielparteien. Bei dem größten Teil der Sportspiele besteht der Spielgedanke darin, dass eine Partei [ihr Können] an dem einer gegnerischen Partei“ (ebd.: 27) misst.
Dietrich (1980) unterscheidet drei Spielformen: Objektspiele, Imitationsspiele und Regelspiele. Bei den Objektspielen geht es um das „Spielen mit etwas“. Dabei spielt die Umweltbewältigung eine Rolle und es „werden vorwiegend materiale und motorische Erfahrungen gemacht“ (ebd.: 17) wie z.B. beim Hula-hoop-Kreisen. Imitationsspiele bedeuten „Spielen als etwas“ und haben das Ziel der „Selbstbestimmung und Selbstverwirklichung der Schüler“ (ebd.: 17). Zu nennen wäre hier als Beispiel das „Vater-Mutter-Kind“ Spiel. Die Kinder begegnen einer Scheinwelt und „die Spielhandlungen werden sprachlich entworfen, begleitet und reflektiert“ (ebd.: 17). Bei der letzten Spielform, den Regelspielen, geht es um das „Spielen um etwas“. Die Kinder müssen bestimmte Regeln einheitlich anerkennen und nach diesen Regeln auch spielen. Das heißt, sie müssen die Regeln zum einen verstehen und sich auch dementsprechend verhalten, um ein Regelspiel zu ermöglichen (vgl. Kolb 2005a). Dabei wird noch zwischen großen und kleinen Spielen unterschieden. Die großen Spiele wie Fußball, Volleyball,…haben ein festes Regelwerk, während die kleinen Spiele wie z.B. die Fangspiele kein festes Regelwerk haben und somit schnell in Gang gesetzt werden können.

Nun zum konkreten Vorfall:
Das Hauptproblem liegt meines Erachtens im Verhalten der Lehrerin. Zuerst einmal stelle ich mir die Frage, ob die Schüler dieser Klasse schon einmal „Fußball“ in diesem Schuljahr als Unterrichtseinheit wahrgenommen haben oder ob dies ihre erste Stunde zum Thema Fußball ist.
Dass die Lehrerin zu Beginn der Stunde die Kinder Fußball spielen lässt, ist nicht falsch, denn „wir lernen Regeln, indem wir spielen; wir lernen noch lange nicht spielen, wenn wir Regeln lernen“ (Schierz 1986: 9). Die Lehrerin geht dies jedoch falsch an. Sie nennt ihren Schülern „basale Regeln“ und geht dann davon aus, dass die Schüler gemeinsam Fußball spielen und Paul das Spiel leitet. Die Lehrperson gibt die Verantwortung in diesem Moment an Paul ab, da sie im Geräteraum zu tun hat. Sie will Paul damit etwas Gutes tun, da er auch darum gebeten hat, dass er mitmachen darf. Jedoch hat sie nicht bedacht, dass Paul mit dieser Rolle überfordert sein könnte und er schlussendlich auch noch von seinen Mitschülern beschuldigt wird. Dass es früher oder später zu Unstimmigkeiten kommen würde, sollte der Lehrerin auch bewusst sein und somit sollte sie beim Spielverlauf dabei sein. Vielleicht haben einige Kinder dieser Klasse noch nie zuvor Fußball gespielt und können sich unter den Regeln der Lehrerin nichts vorstellen. Damit verweise ich auf Schierz (1986), der sagt, dass Spielhandlungen „nicht in der Anwendung von vorab konstruierten Regeln auf[gehen]. Wer Regeln anwendet, spielt vielleicht richtig, aber noch nicht gut“ (S.9).
Es wäre wichtig, dass die Lehrerin während des Spielgeschehens anwesend ist. Nicht nur, weil sie sonst die Aufsichtspflicht verletzt, sondern auch, um das Spiel zu leiten und in den jeweiligen Situationen einzugreifen, wo Probleme entstehen. So kann die Lehrerin nach und nach mit den Schülern Regeln aufstellen und diese sind dann durch die Spielerfahrung für die Schüler leichter nachzuvollziehen. Solch ein Vorgehen verlangt ein hohes Engagement und viel Geduld, was die Lehrerin in keiner Weise zeigt und somit wird sie ihren Anforderungen, die sie bei ihrer Unterrichtstätigkeit zu leisten hat, nicht gerecht. Viele Sportlehrkräfte, so wäre es auch in diesem Vorfall denkbar, bevorzugen im Sportunterricht Sportspiele, denn, „um bedrohliche Konflikte erst gar nicht entstehen zu lassen, orientieren sich Lehrkräfte teilweise an den Interessen der Schüler, den Sportspielen, und wahren dadurch ihre Kontrollüberzeugung, den Unterricht im Griff zu haben (Weichert et al. 2005: 217)“. So wäre es möglich, dass die Lehrerin schon öfters Probleme mit dieser Klasse hatte und das in dieser Sportstunde vermeiden will. „Dies weist darauf hin, dass viele Sportlehrkräfte sich immer weiter vom pädagogischen Auftrag einer gezielten Entwicklungsförderung der Schüler zurückziehen“ (ebd.: 217). Da es sich im Vorfall um eine Grundschule im sozialen Brennpunkt handelt – es wäre aber auch an einer „normalen“ Grundschule möglich -, könnte die Lehrerin schon öfters in Sportstunden gescheitert sein. Deshalb hat sie sich an den Sportspielen orientiert, denn dies ist anscheinend weniger aufreibend und für sie selbst eine entlastende Pause (vgl. Weichert et al. 2005). Dies gelingt ihr aber nicht, da nach kurzer Zeit schon die ersten Unstimmigkeiten bei den Schülern entstehen. Es ist zu hinterfragen, ob es in der dritten Klasse schon möglich ist, die Schüler alleine Sportspiele spielen zu lassen. Die Lehrerin mutet dies den Schülern zu und zeigt auch deutlich, dass sie genervt ist, dass die Kinder nicht alleine Fußball spielen können. Es ist von großer Bedeutung, dass „das Lehren von Spielen […] dem je ausgewählten Spiel sowie dem Alter der Schüler und der Situation angemessen [ist]. Die Auswahl der Spiele ist pädagogisch begründungspflichtig und ihr Lehren und Lernen nach didaktischen Maßstäben und methodischen Maßnahmen auszulegen“ (Ehni 2003: 208). Dies „braucht seine Zeit und kann nicht nebenbei erledigt werden“ (ebd.: 309) wie sich die Lehrerin es vielleicht gewünscht hätte.
Nachdem die Schüler sich bei der Lehrerin beschwert haben, macht die Lehrerin die Schüler dafür verantwortlich, dass das Fußballspiel nicht geklappt hat und zeigt dies den Schülern deutlich. Dass sie selbst von Anfang an die Stunde anders hätte planen müssen, kommt ihr nicht in Sinn. Im Gegenteil, zur Strafe spielt sie nun Linienfange mit ihnen, anstatt mit den Schülern das Geschehene zu reflektieren. Denn gerade „dort, wo Schüler ihr Spiel initiieren, aufrechterhalten oder ihren Bedürfnissen entsprechend weiterentwickeln, sind sie gezwungen, ihre Handlungen zu reflektieren“ (Dietrich 1980: 19). Das Reflektieren gehört auf alle Fälle auch zum Spielen. Gerade „in „Spielen um etwas“ kann es darum gehen, kooperative Handlungen auf ihre Effektivität zu prüfen [und] in allen Spielen kann es darum gehen, die Angemessenheit und Gültigkeit der vereinbarten Regeln zu prüfen“ (ebd.: 19). Man spricht dabei von der strategischen und sozialen Funktion (vgl. Dietrich 1980). Die Lehrerin aber bricht das Spiel unter dem Vorwand, dass das Spiel nicht besser geklappt hätte, ab. Sie hätte, auch wenn sie das Fußballspiel nicht verfolgt hat, mit den Kindern über die Situation reden müssen. So umgeht sie jegliche Art von Diskussion oder Streit zwischen den Schülern. Es ist jedoch wichtig, dass man als Lehrperson in solchen Situationen eingreift und darüber spricht. Dies verdeutlicht Sutton-Smith mit dem oftmals länger und intensiver als das Spiel selbst andauernden „Metaplay“. Das Metaplay dient dazu, dass die Lehrperson den Kindern beibringt wie „ein gutes Streiten um und über ihr Spiel geht“ (Ehni 2003: 306). In vielen Fällen wird das Metaplay im Sportunterricht nicht miteinbezogen. Zum einen ist dies zwar eine Entlastung für das ursprüngliche Spielen für die Schüler, zum anderen ist dies „dem Spiel der Schüler […] und der Förderung ihrer Spielfähigkeit […] nicht immer dienlich (ebd.: 306).
Um die Spielfähigkeiten der Schüler zu fördern, muss man zwischen den allgemeinen und speziellen Fähigkeiten unterscheiden. Aus den Lehrplänen kann man entnehmen, dass in der Grundschule der Fokus auf „Bewegungsspiele“ und „Kleine Spiele“ gelegt werden soll (vgl. Weichert et al. 2005). Dabei soll die allgemeine Spielfähigkeit als Basis „für die Vermittlung der Großen Sportspiele dienen“ (ebd.: 208). Des Weiteren umfasst diese Spielfähigkeit auch das Erlernen von „motorischen Fähigkeiten und Fertigkeiten [aber] auch Spielverständnis und kooperatives Verhalten“ (ebd.: 208). Auch Spiele initiieren, Spielverläufe sichern und nach Unterbrechungen wieder herstellen, ist bedeutsam. Bei der speziellen Spielfähigkeit geht es vielmehr um Regelkenntnisse, taktische Fähigkeiten aber auch, wie bei den allgemeinen Spielfähigkeiten, um die motorischen Fertigkeiten (vgl. Dietrich 1984, in Weichert et al. 2005).
In dem Vorfall wird deutlich, dass die Lehrerin die allgemeinen Spielfähigkeiten nicht berücksichtigt. Sie nennt den Schülern ihre Regeln und ihnen bleibt dann nur noch das Ausüben des Spiels. Nachdem die Lehrerin nach Abbruch des Spiels auch nicht auf das Spielgeschehen eingeht und die Diskussion abrupt abbricht, haben die Kinder keine Chance, die allgemeinen Spielfähigkeiten, also die kommunikativen und sozialen Kompetenzen, zu erwerben. Diese müssen jedoch „in einer Gruppe vorhanden sein, um in eigener Regie ein Spiel [zu] initiieren, aufrecht[zu]erhalten und bei Konflikten wieder in Gang bringen zu können“ (Kolb 2005b: 83). Gerade nach den Unstimmigkeiten zwischen den Schülern, wäre eine Diskussion über das kooperative Verhalten angebracht.
Um die motorischen Fertigkeiten und Fähigkeiten zu schulen, halte ich es nicht für richtig, die Stunde mit einem Fußballspiel zu beginnen. Die Leistungsunterschiede sind in den meisten Klassen sehr groß und somit werden die schwächeren Schüler bei dieser Form von Fußball nicht angespielt oder entziehen sich von selbst dem Spiel. Es wäre sinnvoller, wenn die Lehrerin zu Beginn kleinere Übungsformen zum Thema Fußball mit den Kindern spielt, die dann zum Ende der Unterrichtseinheit zum eigentlichen Sportspiel „Fußball“ führen. Auch in der dritten Klasse kann nicht davon ausgegangen werden, dass alle Schüler schon ein Ballgefühl besitzen und wissen wie sie mit dem Fußball umgehen müssen. Bei Übungsformen in kleineren Gruppen haben die Schüler automatisch mehr Spielbeteiligung und die Schulung von motorischen Fertigkeiten und Fähigkeiten wird hierbei auch mehr gefördert. Dabei verweise ich auf die Vermittlungskonzepte für die Sportspiele, die in Kolb (2005b) dargestellt werden. Eine seiner genannten Vereinfachungsstrategien ist die „elementare Vereinfachung“ (S.71), bei der „der Blick auf der phänotypischen Ebene auf die einzelnen motorischen Handlungselemente bzw. Grundfertigkeiten eines Sportspiels wie „Passen und Fangen, „Dribbeln“, […] gerichtet“ (S.71) wird. Das Üben und Erlernen erfolgt in Übungsformen und diese können im Spiel dann danach eingesetzt werden.
Dass in der Klasse leistungs- und geschlechtsheterogene Gruppen aufeinandertreffen, kann nicht vermieden werden. Aber gerade dann ist es wichtig, dass die Schüler durch eine entsprechende Unterrichtsgestaltung erfahren, dass „Spielregeln Gegenstand und Ergebnis sozialer Vereinbarungen sowie kommunikativer Aushandlungsprozesse sind, die in einem selbstorganisierten Kontext veränderbar sind und an die Bedürfnisse der Beteiligten angepasst werden können“ (Kolb 2005b: 79). Erst dann ist es möglich, ein Spiel zu spielen, das für alle zufriedenstellend ist. Die Kinder sollen hier „das Regeln ihres Spielens“ (Schierz 1986, zit. nach Kolb 2005b: 79) lernen. Erwähnenswert sind auch noch die Zusatzregeln von Schierz (1986b), die „zur Erhöhung der Chancengleichheit im Spiel“ (Weichert et al. 2005: 213) führen. Mit Zusatzregeln sind z.B. Handicaps stärkerer Spieler oder „Sonderrechte für schwächere Spieler“ (ebd.: 212) gemeint. Diese Zusatzregeln müssen aber mit der Klasse besprochen werden. Das Problem, das dabei entsteht, ist, dass durch diese Regeln nicht mehr für alle Spieler die gleichen Regeln gelten und auch die Leistungsdifferenzen der Schüler betont werden (vgl. Weichert et al. 2005). Als Alternative könnten „Zusatzregeln eingeführt werden, die für alle Mitspielenden gelten“ (ebd.: 212). Dadurch wird zwar die Spielform verändert, aber die Möglichkeit, dass die schwächeren Spieler aktiv am Spiel teilnehmen, wird dadurch erhöht (vgl. ebd.).
Diese Unterrichtsinszenierung will bzw. kann die Lehrerin nicht leisten. Stattdessen führt sie ein „fertiges“ Spiel ein, nach dem die Schüler mit vorgegebenem Regelwerk spielen sollen. Hätte die Lehrerin dabei die Absicht, die Defizite ihrer Schüler während des Spiels wahrzunehmen und mit diesem Wissen dann geeignete Übungsformen auszuwählen, wäre ihr Vorgehen vertretbar. Da die Lehrerin aber das Spielgeschehen nicht verfolgt, kann sie dies nicht umsetzen. In dem Fall sollte sie sich wenigstens auf eine Diskussion mit ihren Schülern einlassen, nachdem es zu Unstimmigkeiten gekommen ist.
Durch die vorgegebenen Regeln wird kein „verlaufs- wie [auch] ergebnisoffener genetischer Spielprozess in Gang gesetzt“ (Kolb 2005b: 80) und somit können auch kaum Spielkonflikte entstehen, die einen Anlass für Reflexion und Diskussion geben. Spielstörungen im Schulsport sind wichtig, denn dadurch machen die Schüler Erfahrungen, die dazu beitragen, dass die Schüler gemeinsame notwendige Lösungen mit der Lehrperson diskutieren und erarbeiten, um Regeln aufzustellen, die für ein reibungsloses Spiel erforderlich sind.
Die Auseinandersetzung der Schüler, die durch „falsche“ Schiedsrichterentscheidungen von Paul entsteht, könnte ein Anfang für eine Diskussionsrunde in der Gruppe sein. Dabei sehe ich das Problem, dass die Schüler allein Paul für alles verantwortlich machen. Es müsste in der Gruppe deutlich gemacht werden, dass Paul der Schiedsrichter ist und dass seine Entscheidung von allen Spielern akzeptiert werden muss, weil das die Regel besagt. Besser wär es noch, wenn die Schüler in einer Diskussionsrunde selbst auf eine gemeinsame Lösung kommen würden.
Auf weitere Spielsituationen einzugehen und diese mit den Schülern zu reflektieren ist nicht möglich aus Sicht der Lehrerin, da sie sich während der Spielzeit im Geräteraum aufhält und somit die Reflexion nur eingeschränkt leiten könnte.
Die Lehrerin zeigt sich genervt von der Diskussion der Schüler und entscheidet, um die Sportstunde noch in irgendeiner Weise fortzusetzen und die Diskussion zu beenden, dass Linienfange gespielt wird. Da den Kindern dieses Spiel bekannt ist, entzieht sich die Lehrerin jeglicher Anstrengung, irgendetwas erklären zu müssen. Dabei greife ich nochmals auf Weichert et al. (2005) zurück, worin deutlich wird, dass es unvermeidlich ist, als Lehrkraft Strategien zu wählen, die Kraft und Zeit sparen. Trotz allem „darf diese Entlastung nicht so weit gehen, dass pädagogische Ansprüche aufgegeben werden und die leitende Perspektive des Unterrichts nur noch der Selbstschutz ist“ (vgl. Lange 1981: 14, in Weichert et al. 2005).
Für mich bedeutet der beschriebene Vorfall, dass die Lehrerin entweder keine Lust hat, diese Sportstunde noch auf irgendeine Art sinnvoll weiterzuführen oder sie mit dieser Klasse allgemein überfordert ist.
Es hat den Anschein, dass das Fußballspiel aus Sicht der Lehrerin die Funktion eines Aufwärmspiels haben soll. Ich halte dieses Vorgehen aber nicht für angebracht, wenn die Schüler zuvor noch kein „Fußball“ als Unterrichteinheit hatten.
Das Ziel eines Aufwärmspiels wird dabei nämlich nicht erreicht, denn die Bewegung und somit das Aufwärmen aller Schüler wird nicht gewährt. Die „schwächeren“ Spieler halten sich im Hintergrund auf, während die „guten“ Spieler das Spiel bestimmen. Meiner Meinung nach sollte die Lehrerin ein Aufwärmspiel wählen, das allen Schülern bekannt ist und bei dem sich auch alle bewegen. Daraufhin könnte die Lehrerin mit dem Unterricht fortfahren und am Ende der Stunde noch Fußball spielen.
Der Wechsel vom Fußball, dem eigentlichen Thema der Stunde, zu einem Fangspiel ist für mich nicht logisch. Nachdem die Lehrerin das aus ihrer Sicht „gescheiterte“ Fußballspiel direkt beendet, hätte die Lehrerin die Stunde wenigstens mit einem Ballspiel fortsetzen können.
Warum aber hat sie ihre Sportstunde nicht einfach weitergeführt und das Fußballspiel, so wie es lief, hingenommen? Vielleicht war sie schon vor der Stunde schlecht gelaunt und das „gescheiterte“ Fußballspiel hat für sie das Fass zum Überlaufen gebracht. Doch dafür können die Schüler nichts und sie dürfen darunter auch nicht leiden.
Wenn die Schüler in ihrer bisherigen Schulzeit noch kein Sportspiel im Unterricht durchgeführt haben, wäre es aus meiner Sicht naheliegend, dass die Kinder nach einem geeigneten Aufwärmspiel erst einmal ausprobieren, was sie alles mit einem Fußball machen können. Ehni (2003) spricht hierbei vom Erkunden, d.h. die Neugierde und Offenheit der Schüler wecken und Möglichkeiten handelnd in Erfahrung bringen und sich auf Unbekanntes einlassen. Anschließend könnte sie in das Üben übergehen, was bedeutet, dass die Kinder das, was sie noch nicht können, übend erwerben und klare Bewegungsvorstellungen entwickeln. Das Üben soll eine Herausforderung, aber auch machbar sein. Dabei sollte die Lehrerin zwischen den Schülern differenzieren. Dies kann durch die Bildung von unterschiedlichen Übungsgruppen gelingen (vgl. Ehni 2003). Vielleicht wollte die Lehrerin nach dem Fußballspiel in solcher oder ähnlicher Art die Sportstunde eigentlich fortführen. Mir kommt es allerdings eher so vor, als ob sie sich zuvor nicht sehr viele Gedanken zu dieser Stunde gemacht hat, d.h. sie hat sich nicht überlegt, was das heutige Ziel sein soll und was die Schüler aus dieser Stunde mitnehmen sollen.
Als Paul dann auch noch mit seinem Gipsarm beim Linienfange mitspielt und die Lehrerin es zulässt, wird mir sehr deutlich, dass die Lehrerin in ihrer Rolle als Sportlehrerin versagt hat - zumindest in dieser Sportstunde. Die Lehrerin müsste Paul die Teilnahme am Sportunterricht verbieten, denn einem Schüler mit Gipsarm ist es nicht erlaubt, im Sportunterricht aktiv mitzumachen.
Wenn ein neues Sportspiel in einer Klasse eingeführt werden soll, muss sich die Lehrkraft zuvor Gedanken machen, was sie den Schülern mitgeben will und welche konkreten Ziele sie mit dieser Sportstunde erreichen möchte. Nur dann ist es aus meiner Sicht sinnvoll, ein Sportspiel in einer Klasse einzuführen.

Literaturangaben:
Dietrich, K. (1980). Spielen. sportpädagogik 4, (1), 13-19.
Ehni, H. (2003). Spielen und Spiel im Sportunterricht der Grundschule. In G. Köppe & J. Schwier (Hrsg.), Handbuch Grundschulsport (S. 293-314). Baltmannsweiler: Schneider.
Kolb, M. (2005b). Sportspiel aus sportpädagogischer Sicht. In A. Hohmann, M. Kolb & K. Roth (Hrsg.), Handbuch Sportspiel (S. 65-83). Schorndorf: Hofmann.
Kolb, M. (2005a). Strukturen von Spiel und Sportspiel. In A. Hohmann, M. Kolb & K. Roth (Hrsg.), Handbuch Sportspiel (S. 17-30). Schorndorf: Hofmann.
Schierz, M. (1986). Spielregeln – Spiele regeln. sportpädagogik 10 (4), S. 7-14.
Weichert, W., Wolters, P. & Kolb, M. (2005). Sportspiel im Schulsport. In A. Hohmann, M. Kolb & K. Roth (Hrsg.), Handbuch Sportspiel (S. 205-218). Schorndorf: Hofmann.


Interpretation 2
Schlüsselsatz: Wir waren das doch gar nicht, aber wenn der Paul nicht richtig pfeift, dann ist das ungerecht. Er hat gar nicht gesehen, dass der Ball aus war!

Die Lehrerin verlässt die Halle, um Material für den weiteren Verlauf der Stunde bereit zu stellen. Um ein geregeltes Spiel zu gewährleisten, ordnet sie einen verletzten Schüler als Schiedsrichter ab. Obwohl sie die Regeln des Spiels zu Beginn der Stunde erklärt, kommt es kurz nach Beginn des Fussballspiels zu Unstimmigkeiten zwischen den Schülern und dem eingesetzten Schüler-Schiedsrichter. Die Schüler wenden sich an die Lehrerin, die verärgert auf das vermeintliche Unvermögen der Schüler reagiert.
Für die Lehrerin stellt sich somit die Frage, ob sie für die Effizienzsteigerung des Unterrichts (Vorbereitung im Geräteraum) die Obhutspflicht vernachlässigen soll.

Die Obhutspflicht der Lehrerin umfasst das gesamte Turnprogramm. Die Spielleitung in einer dritten Primarklasse ist eine anspruchsvolle pädagogische Aufgabe. Um Unfälle und emotionale Konflikte zu verhüten ist eine regelkonforme und spielentwickelnde Spielanleitung sinnvoll und notwendig.
Bei der Risikoabwägung der Lehrerin wäre meiner Meinung nach eine Entscheidung für eine spielfördernde Spielleitung wichtiger gewesen, als die Bereitstellung von Materialien im Geräteraum. Beim Aufstellen von Geräten hätten die Schüler nach dem Spiel mithelfen können.
Wird der Schüler Paul mit dem verletzten Arm durch den delegierten Auftrag der Lehrerin stellvertretend als Schiedsrichter zu agieren persönlich gefährdet (Sorgfaltspflicht) und war er mit der Schiedsrichterrolle überfordert? (Passende Aufgabe?)
Die erforderliche Sorgfaltspflicht im schulischen Sportunterricht umfasst als Grundregel:
Überwachung: kontinuierliche und aktive Gefahrenerkennung
Erziehung zur Verantwortungsbereitschaft, hier in diesem Fall wäre neben dem Einhalten der Spielregeln auch die Fairness der Mitschüler gegenüber ihrem verletzten Kollegen einzufordern
Einhalten der Richtlinien und Empfehlungen der Schulleitung, sowie anerkannter Organisationen.

Wie wird das Lernklima durch die Unmutsbezeugungen der Lehrerin beeinflusst?
Offensichtlich fühlen sich die Schülerinnen und Schüler ungerecht behandelt und auch „im Stich gelassen“.
Wird das Unfallrisiko in dieser Spiellektion durch die emotional gespannte Atmosphäre erhöht?
Emotionale Spannungen im Bereich Frustration führen häufig zu Fouls im Sportspiel oder auch bei Schüler und Schülerinnen zu Spielverweigerungen. Bei schmerzhaften Fouls beobachten wir häufig auch bei Kindern, durch emotionale Übererregung ausgelöste, Revanchefouls.

Sind „kollektiv Strafen“ durch die Lehrerin (wir spielen nun Linienball) pädagogisch verantwortbar?
Die vorwurfsvolle Reaktion an die Klasse war sicher kein optimaler Einstieg, um die Konfliktsituation im Fussballspiel zu entschärfen. Ich hätte die Schiedsrichterrolle von Paul sorgfältig wieder selber übernommen und dem verletzten Schüler, dankend für seinen Einsatz, eine Assistentenfunktion ausserhalb des Gefahrenbereichs einer unabsichtlichen Verletzung durch Mitschüler zugemutet (Passende Aufgabe zur Integration von Paul ins Spielgeschehen suchen).

Orientierungshilfen ; www.bfu.ch
bfu-Fachdokumentation 2.082 „Spielwert zwischen Sicherheit und Risiko“, Bern 2011
Safety Tool; Sicherheitsförderung an Schulen, Ballspiele Sekundarstufe 1 und 2
Kommentar / Beratung; Fernand Firmin Dr. phil. Sportpädagoge und Sport Safety Coach im Auftrag der bfu, Klusstrasse 18, 3150 Schwarzenburg, Email; ferdy.firmin@bluewin.ch