Fall Nr. 77

 

Sturzhang

Schlüsselsatz: "... aber das ist eigentlich noch etwas zu früh für euch."
Stufe: Sekundarstufe I
Bewegungsfeld: Bewegen an Geräten
Disziplin/Sportart: Schaukelringe
Inhalte präsentieren: Erklären | Üben und Trainieren
Spezielle Themen: Sicherheit
Textsorte: Didaktischer Text

Fallbeschreibung:

(a) 7. Schuljahr, Sekundarschule, 16 Schülerinnen. In dieser Stunde soll am Semesterplan weitergearbeitet werden. Die Schülerinnen haben in diesem Semesterplan die Möglichkeit aus 22 Bewegungsaufgaben 10 auszuwählen. Weil es draussen regnet (und die Lehrerin die Wünsche auch etwas koordiniert) haben heute die meisten Schülerinnen Geräteturnen gewählt.
(b) Nach einem intensiven Aufwärmen verteilen sich die Schülerinnen auf die bereits aufgestellten Geräte. Man merkt den gewohnten Umgang mit der offenen Aufgabenstellung: Alle beginnen intensiv zu üben. Die Lehrerin begibt sich zuerst zu der Trampolingruppe und erinnert sie an die bekannten Sicherheitsvorschriften. Nach einigen Tips und Korrekturen verlässt sie das Trampolin und wendet sich zwei Reckturnerinnen zu. Sie zeigt einiges vor und steht Hilfe. Anschliessend begibt sie sich zu den Schaukelringen, wo sich vier Schülerinnen um das Aufgabenblatt versammelt haben.
(c) Weil den Schülerinnen die Aufgabenstellung nicht ganz klar ist, turnt die Lehrerin die ganze Übung kurz vor (Vorschwingen, Beugehang, Rückschwingen - Strecken, Vorschwingen, 1/2 Drehung, Rückschwingen - 1/2 Drehung, Zwischenschwung und Absprung hinten). Sie verweist aber darauf, dass es auf dem Aufgabenblatt auch vorbereitende Übungen hat. Eine Schülerin fragt die Lehrerin, ob auch andere Elemente geturnt werden können.
Lehrerin: "Natürlich, dies ist einfach die Grundlage. Und falls ihr dann z.B. einen Sturzhang dazu nehmen wollt, so könnt ihr das.
Schülerin: "Was ist das?"
Lehrerin: "Das hat nichts mit Stürzen zu tun, damit ist einfach die Kipplage gemeint". (Sie zeigt es kurz bei stehenden Ringen vor.)
Schülerin: "Macht man den Sturzhang im Schwingen?"
Lehrerin: "Ja, aber das ist eigentlich noch etwas zu früh für euch". Der letzte Satz geht etwas unter, weil die Schülerinnen bereits wieder zu den Ringen eilen.
(d) Die Lehrerin wendet sich wieder dem Trampolin zu. Währenddessen versucht eine der Ringturnerinnen den Sturzhang zu turnen. Sie hängt mit dem Kopf nach unten und gestreckten Beinen an den Ringen. Sie "hängt" sich dabei mit den Füssen in den Seilen ein. Als die Lehrerin dies sieht, stoppt sie die Schülerin und macht sie auf die Gefahren der Übung aufmerksam. Sie übt darauf mit dieser Schülerin den Sturzhang an den stehenden Ringen.
(e) Während sich die Lehrerin wieder dem Trampolin zuwendet, versuchen auch andere Schülerinnen den Sturzhang. Bei einigen gelingt dies sehr gut. Allerdings drehen sie dabei auf die falsche Seite zurück und müssen die Ringe loslassen, damit sie ihre Schultern nicht auskugeln. Die Abstürze, die sich daraus ergeben verlaufen relativ glimpflich. Die Lehrerin sieht diese "Variationen" erst spät. Sie begibt sich wieder zu den Ringen und unterbricht die Übenden. "So wie ihr den Sturzhang macht ist er zu instabil. Ihr müsst ihn sicher halten können, damit es euch nicht auf die falsche Seite dreht." Sie demonstriert dies bei einer Schülerin, die sich im Sturzhang befindet. "Ich stosse dich ein wenig auf beide Seiten und du versuchst möglichst stabil zu bleiben."
(f) Die Lehrerin wendet sich anschliessend einer anderen Gruppe von Ringturnerinnen zu, die bereits wieder zu turnen begonnen haben. Während sie auch hier mit vorbereitenden Übungen Einzelne zum Sturzhang hinführt, probieren die Anderen den fertigen Sturzhang. Dabei sind aber immer wieder Abstürze zu beobachten.


Fallinterpretation:
Obwohl diese Äusserung der Lehrerin von den Schülerinnen vielleicht gar nicht gehört wird, behält sie für das weitere Verhalten der Lehrerin seine Wichtigkeit. Die Schülerinnen, die an den Schaukelringen turnen, haben im Grunde genommen eine klare Aufgabenstellung (Aufgabenblatt). Diese Aufgabe enthält mehrere Übungen, aber nicht den Sturzhang. Trotzdem aber versuchen immer mehr Schülerinnen dieses Element. Warum?
Um diese Frage beantworten zu können, müssen wir zurück zur Ausgangssituation (c). Die Schülerinnen sind mit der Aufgabenstellung etwas überfordert. Die Lehrerin turnt ihnen deshalb die Übung einmal vor, worauf die Frage nach zusätzlichen Elementen gestellt wird. Warum sie gerade den Sturzhang vorzeigt bleibt offen. Sie zeigt ihn jedoch bei stehenden Ringen vor und bringt damit zum Ausdruck, dass sie dieses Element noch gar nicht geturnt haben will. Durch dieses Vormachen visualisiert sie aber ein Element, das eigentlich noch nicht geübt werden soll. Die Schülerinnen beginnen darauf mit dem Üben des Sturzhangs, obwohl die Lehrerin, zwar halbherzig, diesen noch ausschliesst.
Ich meine, dass gerade dieses Vorturnen ausschlaggebend ist, warum sich immer mehr Schülerinnen mit dem Sturzhang beschäftigen. Zwar turnt sie auch die anderen (geforderten) Elemente vor, diese sind aber in den Augen der Schülerinnen viel weniger spektakulär. Die Konsequenz ist, dass die Lehrerin während dem Rest der Stunde damit beschäftigt ist die Schülerinnen vor "instabilen" Sturzhängen zu warnen und nach und nach den Sturzhang individuell einzuführen. Statt ihn methodisch korrekt mit mehreren Schülerinnen gleichzeitig aufzubauen, ergibt sich ein mühseliges Reagieren der Lehrerin auf Handlungen der Schülerinnen.
Durch das Vorzeigen des "attraktiven" Sturzhanges, gerät die offene Aufgabenstellung in eine unglückliche Konkurrenzsituation: Trotz der Offenheit des Unterricht, wird die Situation zu einem klassischen Riegenbetrieb, die Lehrerin zeigt vor, die Schülerinnen machen es nach. Das ganze Konzept des Semesterplanes und der offenen Aufgabenwahl fällt damit zusammen, weil die Lehrerin unüberlegt ein Element vorturnt, das vom Schwierigkeitsgrad noch nicht geturnt werden sollte. Spätestens dort, wo sich mehrere Schülerinnen dafür entscheiden den Sturzhang auszuprobieren (e), sollte sie alle Ringturnerinnen darauf aufmerksam machen, dass die gestellte Aufgabe (Aufgabenblatt) eigentlich Vorraussetzung für den Sturzhang ist; oder zumindest das Element mit allen methodisch korrekt einführen.