Fall Nr. 21

 

Stinkefinger

Schlüsselsatz: Ich erhasche noch kurz, dass der Schüler mir den "Stinkefinger" (Mittelfinger) nachstreckt.
Stufe: Sekundarstufe I
Bewegungsfeld: Spielen
Disziplin/Sportart: Unihockey
Spezielle Themen: Gewalt/Mobbing
Textsorte: Chronik

Fallbeschreibung:

Die Knaben der 8. Realschulklasse spielen Unihockey. Als Spielleiter sehe ich einen Knaben, der versteckt Stockschläge austeilt und aggressiv hart in die Zweikämpfe geht. Ich nehme ihn kurz beiseite und sage ihm, dass sein regelverletzendes Verhalten mir auffällt und ich dies nicht mehr dulden werde. Unmittelbar nach meiner Intervention begeht der Schüler ein übles Foul. Ich gebe ihm eine bei uns übliche Minutenstrafe.
Bei erhalt dieser Strafe murmelt er etwas vor sich hin, Schimpfworte die sich an mich adressierten. Bei einigen nahestehenden Schülern beobachte ich ein hämisches Grinsen. Sie schauen mich an. Ich geh auf den herauslaufenden Schüler zu und frage :" Was hast du vorhin halblaut gesagt?" In diesem Moment unterbrechen die Schüler ihr Spiel und blicken uns an, es herrscht Ruhe im Saal. Der betroffene Schüler antwortet :"Ich habe überhaupt nichts gesagt!"
Ich dreh mich vom Schüler ab und geh wieder zur Seite um das Spiel fortzusetzen. Aus meinem Augenwinkel sehe ich ungenau was geschieht. Ich erhasche noch kurz, dass der Schüler mir den "Stinkefinger" (Mittelfinger) nachstreckt. Ich drehe mich um und werde echt sauer. Ich lauf auf den Schüler zu, pack ihn grob mit beiden Händen am Leibchen und stelle ihn mit folgenden Worten vor die Türe: "Wenn du jetzt noch ein einziges Wort sagst, dann hau ich dir eine in die <Fresse>, warte hier draussen bis die Lektion zu ende ist, dann sehen wir weiter!"
Anschliessend läuft das Spiel fair aber intensiv weiter.


Fallinterpretation:
Diese Klasse besteht aus 12 Schülern die eigentlich der Oberschule angehören. Das heisst der Stufe, wo grosse Lernstörungen vorhanden sind. Allgemein kann man sagen, dass auf dieser Stufe das Klima eher rau ist, das Niveau im Umgang entsprechend tief. Die Schüler zeigen aber einen enormen Bewegungsdrang.
Ich habe die Klasse vor drei Monaten übernommen, sie hatte vorhergehend keine ausgebildete Sportlehrkraft und kannten einen geplanten Unterricht in dem Sinne nicht.
Diese angesprochene Sportlektion war stets am Montag Nachmittag in der dritten Lektion. Ich verstand dies als Zeichen, dass da in erster Linie das aktive Bewegen im Vordergrund stand, und weniger das Erlernen von Fertigkeiten. Die Schüler kamen oft ziemlich wild in die Lektion, man spürte deutlich, dass die vorhergehenden sieben Lektionen sie mitgenommen haben. So war mein oberstes Ziel stets einen Energieabbau in Form von intensivem Bewegen, verbunden mit dem Einhalten von Grenzen oder eben Regeln. Oft habe ich ein Krafttraining angeboten, bin in die Natur raus gegangen oder habe einfach ganz intensiv gespielt. Die Schüler haben auch immer wieder betont, dass sie das "Energieabladen" sehr schätzen.
Aus meiner Erfahrung mit neuen und relativ schwierigen Klassen mit vielen verhaltensorginellen Schülern ist es von zentraler Bedeutung unmittelbare Normen aufzustellen, die eingehalten werden müssen. Ich verstehe hiermit zum Beispiel, dass man sich konkret an Spielregeln hält, dass man Schiedsrichterentscheide akzeptiert und mit Sieg und Niederlagen umgehen kann. Es muss zuerst also ein entsprechendes Klima geschaffen werden um überhaupt unterrichten zu können. Andere Stufen bringen diese Grundlagen schon mit, hier ist dies jedoch nicht der Fall.
So ist es für diese Schüler enorm wichtig, dass man sie als Person ernst nimmt, dass sie aber auch im Sportbereich Erfolgserlebnisse erfahren, als Ausgleich zu ihrer meist gescheiterten Schulkarriere um ihr Selbstwertgefühl zu stärken. Dafür brauchen sie aber auch eine relativ enge Führung und klare Richtlinien, die ihnen Sicherheit für ihr Verhalten geben. Das führ ich aus, weil dies mit den Vorstellungen der Klassennlehrer der Schüler im Einklang steht. So soll der Sportunterricht auch in das gesamtpädagogisches Konzept dieser Stufe eingelagert sein.
So ist für mich guter Unterricht auf dieser Stufe, wenn die Schüler sich an Regeln halten und ich ihnen Situationen schaffe, in denen sie sich aktiv ausleben können, und erst noch Erfolgserlebnisse erzielen. Sie sollen zufrieden die Halle verlassen können.
Nach meiner Ansicht, die ich aus diversen Rückmeldungen erhalten habe, gefällt den Schülern mein Unterricht, sie schätzen mich, vielleicht nehme ich von meinen sportlichen Fähigkeiten eine gewisse Vorbildsfunktion ein. Sie fühlen sich bei meiner strengen Führung wohl, wenn es natürlich anfangs häufige Auseinandersetzungen in Sachen Machtverhältnisse gegeben hat. Das Verhältnis zwischen den Schülern und mir ist aber gut. Zitat Schüler: "Endlich haben wir mit ihnen einen echten Sportunterricht der Spass macht!"

Bei diesem Fall hält sich ein Schüler nicht an die Regeln des Spieles. Ich nehme ihn zur Seite und will ihm klar machen, dass ich ihn und seine Regelverstösse wahrnehme. Ich mache ihn darauf aufmerksam und teile ihm mit, dass sein Verhalten nicht akzeptiert wird. Ich will das Spiel aber bewusst nicht unterbrechen, ich will die Situation mit ihm persönlich klären, so kann ich ihm auch zeigen, dass er meine Aufmerksamkeit hat, mit der Hoffnung, dass das genügt um eine Beruhigung herbeizuführen.
Die Situation beruhigt sich nicht, das Gegenteil kehrt ein, Das Problem spitzt sich zu. Der Schüler fordert die feste Regelung, er fordert mich als Regelleiter geradezu persönlich auf. Es scheint ein Kräftemessen in Gang zu kommen. Dies wird auch so von den anderen Schülern wahrgenommen, denn diese scheint die Situation zu interessieren und hören auf zu spielen. Der Fokus ist nun auf mich gerichtet und deshalb ist dies für mich nun der Kern der Geschichte : "...es herrscht Ruhe im Saal. Der betroffene Schüler sagt: "Ich habe überhaupt nichts gesagt!"". Mir fällt also auf, dass der Schüler seine vorhin auf mich gerichtete Beleidigung nicht mehr wiederholt. Eigentlich bin ich überrascht. Denn ich glaube festzustellen, dass diese Situation wieder ein Suchen nach der Grenze gegenüber meiner Autorität darstellt, vielleicht ist es aber auch eine Art Mutprobe des Schülers um seine Position als Mitanführer in der Klasse zu stärken. Doch nun schweigt er, und ich kann ihn und die Aussage nicht dingfest machen. Ich wollte aber wissen ob er es wirklich wagt, solche Worte vor meinem Angesicht zu sagen. Er wiederholt seine Beleidigungen nicht, das würde heissen, er weiss seine Grenzen nun in diesem Moment ganz klar. Nach der Lektion hätte ich nochmals Zeit auf diese Äusserungen genauer einzugehen.
Deshalb genügt es für mich und will die Lektion fortsetzen. Meine Position scheint mir in dem Moment gesichert, ich kann mit dem leben. Erst hinter meinem Rücken dann wieder das klare Zeichen, das für mich als eine Art "Kriegserklärung" gilt. Was mich jetzt aus der Ruhe bringt ist die Tatsache, dass er nicht offensichtlich sich auf mich einlässt, sondern eben hinter meinem Rücken und ich es wirklich zufällig mitbekomme.
Ein Widerspruch ist dies für mich auch deshalb, weil ich ein gutes Verhältnis auch gerade zu diesem Schüler habe.
Ich gerate jetzt in Rage, auch ein Widerspruch zu meinem Verhalten sonst, ich bin zwar sehr energisch aber nie unkontrolliert, in dem Moment hab ich mich nicht mehr völlig unter Kontrolle. Ich bin persönlich beleidigt und schlüpfe aus meiner Lehrerrolle. Ich fass den Schüler körperlich grob an, und schmeiss ihn unzimperlich vor die Türe mit den bekannten Worten, die für mich auch Schlüsselbedeutung einnehmen.
Ich werde also in einem gewissen Sinne gewalttätig und verbal ausfällig.
Ich hab das Problem weggeschafft und will den Unterricht weiterführen damit ich Zeit gewinne und die Situation erst einmal ruhen kann.
Diese ganze Problematik beziehe ich also auf ein Autoritätsprinzip. Ich darf meine Glaubwürdigkeit nicht verlieren, ich muss die Distanz bewahren, gerade auch wegen meinem relativem Jungsein als Lehrer auf dieser Stufe.
In meinem Hinterkopf war sicher immer das Bild vom "Oberbandeführer", ein Ausdruck von A. Guggenbüehl, einem Gewaltsoziologen, der darauf hinweist, dass wir in diesem Milieu der Bandeführer sein sollten um die Jugendlichen zu führen, sie zu sozialisieren.
Nach diesem Prinzip wollte ich meine Position in dieser Situation festigen und klar stellen. Eine Niederlage konnte ich mir nicht leisten, deshalb hab ich nach dem Stärkeprinzip den Schüler einfach körperlich besiegt. Und genau hier kommen mir und dem Leser wahrscheinlich seine Zweifel. Ist meine pädagogische Intervention zu vertreten?
Die Konsequenzen wären eigentlich, dass körperliche Gewalt zur Lösung führen, ich habe das ja mit Erfolg dargestellt. Was wäre geschehen, wenn der Schüler mich wegen anfassen angezeigt hätte?
Gibt es eine Möglichkeit, in einer solchen Situation passend zu reagieren mit dem gleichen Erfolg, dass die Autorität und das Ansehen der Lehrperson bleibt ?
Von Erfolg spreche ich, weil ich natürlich die Konsequenzen meines Verhaltens dann später erlebt habe. Weil ich in manchen Gesprächen mit Schülern herausgefunden habe, wie meine Intervention gewirkt hatte.
Am Ende der Lektion hat sich der Schüler dann gerade persönlich entschuldigt, er kam auf mich zu und gab mir die Hand, ohne dass ich etwas nur angemerkt hatte. So fiel es mir einfach, mich meinerseits für meine etwas aggressive Haltung zu entschuldigen. Zudem kam dann ein Gespräch vor der Garderobe mit allen Schülern zu stande, wo die Situation nochmals geklärt wurde. Die Schüler zeigten Verständnis für meine Haltung und befanden, dass der Schüler im Unrecht war, dass er zu weit gegangen sei, er hätte mich zu weit provoziert. Heraus kam dann noch, dass dieser Schüler an diesem Tage einige Rückschläge von seinem Klassenlehrer in Sachen Lehrstellensuche erhalten hat. Natürlich überrascht mich diese Tatsache nicht, doch wir suchten dann nach Lösungen des Frustabbaus. Als Abschluss muss ich noch erwähnen, dass ich seit diesem Tage an grosser Respekt im ganzen Schulhaus genoss und die Frage noch lange in den Gängen herumging, ob ich ihm dann tatsächlich eine in die Fresse gehauen hätte. Eine gute Frage, beschäftige ich mich noch heute damit, aber in dieser Weise, dass es Wege geben muss, dass die Situation eben gar nicht so weit kommen muss.
Da ergibt sich der Lösungsweg, dass wenn ich ein spezielles aggressives Verhalten beobachte dies ernster nehmen muss. Im Sinne von R. Cohn und ihrer TZI. Probleme haben Vorrang. Und ein aggressives Verhalten stellt ja ein Unterrichtsproblem dar. Das heisst gerade intervenieren, mit grösserem Schwergewicht als ich das tat. Die Ursachen mit der Klasse besprechen, herausfinden und dann erst wieder weiterspielen.
Oder dass ich mehr individualisiere. Den auffallenden Schüler herausnehme, mit ihm die Situation bespreche und vielleicht einen Weg finde, dass das Gruppenspiel für ihn im Moment nicht das richtige ist und er vielleicht besser in den Kraftraum geht, oder Joggen geht. Konkret meine ich, man sollte besser auf die individuellen Bedürfnisse der Schüler auf dieser Stufe eingehen. Und so eben zum Beispiel Lösungswege mit dem Schüler von Frustabbau herausfindet und sie umsetzt.
Die Konsequenzen für meinen Unterricht wären dementsprechend, dass ich schauen muss, dass eine solche Situation gar nicht mehr auftritt, dass ich in einem gewissen Sinne präventive Massnahmen mir aneigne um in solchen Situationen besser zu handeln: Störungen schon früh erkenne, sie ernst nehmen und ins Zentrum stellen.
Nur hat es auf dieser Schulstufe laufend irgendwelche Störungen, so dass ich mich frage, ob da Unterricht jemals so stattfinden wird.