Fall Nr. 79

 

Spielentwicklung

Schlüsselsatz: "...und spielen noch fünf, sechs Minuten richtiges Basketball."
Stufe: Sekundarstufe II
Bewegungsfeld: Spielen
Disziplin/Sportart: Verschiedene Spiele
Inhalte präsentieren: Handelndes Lernen / Kognitive Aktivierung
Textsorte: Didaktischer Text

Fallbeschreibung:

(a) 10. Klasse Gymnasium, Mädchenklasse. Nach einer ausführlichen "Theorie" über das Allgemeine von Spielen teilt der Lehrer die Schülerinnen in 3 Gruppen. Die Gruppen sollen anhand vorgegebener Geräte und Materialien ein Spiel selbst erfinden oder ein bekanntes Spiel abändern. Das vorgegebene Material soll möglichst vollständig verwendet werden.
Station 1: 2 Langbänke aufeinandergestellt, 2 Malstäbe je am Ende der Langbänke, 1 Volleyball.
Station 2: 2 gelbe und 2 rote Verkehrshüte, 1 Medizinball.
Station 3: 2 Malstäbe, 1 Basketball (1Basketballkorb). Als Spielfeld steht jeder Gruppe 1/3 der Halle zur Verfügung. Die Gruppen haben jeweils ca. 10 Minuten Zeit, um an ihrer Station ein Spiel zu erfinden und auszuprobieren, bevor es den anderen Gruppen demonstriert wird. Anschliessend wird zur nächsten Station gewechselt.
Im folgenden beobachten wir auschliesslich Station 1:
(b) Die Gruppe bei Station 1 stellt als erstes die Langbänke nebeneinander. Anschliessend beginnt ein längeres Diskutieren, ohne dass irgendwelches Material verändert wird. Nach ca. 4 Minuten tritt der Lehrer hinzu und fragt, was bisher ausgeheckt wurde.
Eine Schülerin antwortet: "Wir haben einfach zwei Bänke zuviel."
Lehrer: "Also geht einmal vom Ball aus, den kann man schlagen, werfen oder stossen."
Schülerin: "Muss man alles Material verwenden?"
Lehrer: "Möglichst, ja."
(c) Der Lehrer wechselt wieder zu einer anderen Gruppe, während die Schülerinnen die Langbänke ca. 9m voneinander entfernt aufstellen. Sie entwickeln nun langsam ein Spiel, das man am ehesten mit "Bänklifussball" bezeichnen könnte. Einzige Einschränkung: Der eigene Malstab muss auf dem Bänkli stehen, damit das Tor zählt. Falls die Gegnerinnen ihren Malstab auch auf das Bänkli setzen können, zählt das Tor nicht. Sie zeigen (wie auch die anderen) ihr erfundenes Spiel allen Schülerinnen der Klasse vor, bevor sie die Station wechseln.
(d) Jetzt arbeitet die zweite Gruppe an Station 1. Der Lehrer weist darauf hin, dass die Malstäbe eventuell jemanden verletzen könnten, wenn sie umkippen. Nachdem alle drei Gruppen zu einer Lösung gekommen sind, unterbricht der Lehrer die Spiele und lässt die Schülerinnen ihre Ergebnisse vorzeigen. Die Gruppe an Station 1 hat zwei Langbänke aufeinandergestellt. Auf diesen stehen an den Rändern je ein Malstab. Mit Volleygesten soll versucht werden, die Malstäbe umzuwerfen. Ein Punkt kann erreicht werden, indem der Malsstab getroffen wird, ohne dass der Ball das Spielfeld verlässt. Die Schülerinnen demonstrieren kurz die erfundene Form, während der Lehrer die Punkte zählt. Die anderen Schülerinnen schauen zu. Das Spiel verläuft eher harzig.
(e) Als weitere Variante lässt der Lehrer nun ein "Sitzvolleyball" spielen. Die Spielerinnen sitzen am Boden und spielen den Ball über die aufeinandergestellten Bänke. Der Ball darf einmal den Boden berühren, bevor er gespielt werden muss. Ansonsten gelten die normalen Volleyballregeln. Wieder zeigt die Gruppe das Spiel kurz vor, während die anderen zuschauen. Auch dieses Spiel verläuft eher harzig.
(f) Der Lehrer stoppt das Spiel und lässt auch die anderen Gruppen ihre erfunden Spiele vorzeigen. Anschliessend verzichtet er auf einen dritten Durchgang und wechselt zum Basketball: "Jetzt reicht es nicht mehr für eine dritte Runde, aber so mit der Zeit gibt es da ganz lustige Ideen. Wir räumen alles Material weg und spielen noch fünf, sechs Minuten richtiges Basketball."


Fallinterpretation:
Am Verhalten des Lehrers ist im Grunde genommen nichts auszusetzten. Er gibt höchstens Anregungen (b), fragt nach oder weist auf Gefahrenquellen hin (d). Auch sein eigener Vorschlag (e) kann nicht als Beeinflussung betrachtet werden. Das Sitzvolleyball stellt er nichtwertend, als weitere Variante in den Raum. Damit entsprechen seine Anregungen und Fragen dem Lehrerverhalten, wie es MIETLING (1993) für die Förderung der Mitbestimmung verlangt: "Mitbestimmung zielt auf die Entwicklung von Selbstbestimmung der Schülerinnen und Schüler und setzt Abbau von Fremdbestimmung der Lehrerinnen und Lehrer voraus."
Betrachten wir die Aufgabe, resp. die Ausgangsmaterialien etwas genauer, so stellen wir fest, dass die Entscheidungsfreiheit nicht allzu gross ist. Es erstaunt sogar, dass die Schülerinnen, trotz der sehr eingeschränkten Ausgangslage, sehr unterschiedliche Formen finden. Vielleicht war der Lehrer bei der Vorbereitung bereits zu sehr auf eine Spielform fixiert, dass er nicht mehr Material zu Verfügung gestellt hat. Warum dürfen nicht andere Materialien dazu genommen werden, oder gegebene weggelassen werden (b)?
Sofern der Lehrer wirklich Spiele entwickeln lassen wollte (und davon gehe ich aus), so lässt er den Schülerinnen zuwenig Spielraum. Spielentwicklung setzt einen Entdeckungsprozess voraus, der bei dieser Ausgangssituation sehr eingeschränkt ist. Der Lehrer verwechselt hier Offenheit mit Möglichkeit. Die auf den ersten Blick sehr offene Situation lässt sehr wenig Variationsmöglichkeiten zu. Die Schülerinnen wären besser bedient, wenn zumindest die Möglichkeit bestanden hätte, Material wegzulassen oder anderes hinzuzufügen.
Die vermeintliche Schülermitbestimmung wird also mit der sehr eingeschränkten Ausgangslage eingeschränkt, wenn nicht sogar verunmöglicht. Da nützt auch die sehr affirmative Haltung des Lehrers gegenüber den Vorschlägen der Schülerinnen nichts. Auch Sie merken, dass die gefundenen Spiele nicht sehr spannend sind. Durch den Satz des Lehrers, dass nun "richtiges" Basketball gespielt werden soll werden die Vorschläge der Schüler erst recht marginal. Was waren die gefunden Spiele anderes als falsch, wenn nur das grosse Sportspiel Basketball richtig ist?
Auch nicht zu Ende gedacht ist das Handeln des Lehrers nach den beiden "harzigen" Spielen (d,e). Welchen Nutzen sollen die Schülerinnen daraus ziehen, wenn das Problem anschliessend vom Lehrer nicht thematisiert wird. Solange er nicht darauf eingeht, warum dieses Spiel nicht so flüssig läuft, wie es die Schülerinnen vielleicht gewollt hätten, bleibt der Vorschlag als schlechtes Beispiel im Raum. Die Schülerinnen müssen nun wirklich glauben, dass nur "richtiges" Basketball Spass macht.