Fall Nr. 70

 

Koordinative Fähigkeiten

Schlüsselsatz: Gibt es nächstes Mal eine Prüfung darüber?
Stufe: Sekundarstufe II
Bewegungsfeld: nicht definiert
Disziplin/Sportart: Koordinative Fähigkeiten
Inhalte präsentieren: Lehrgespräch und Coaching; Diskussion
Textsorte: Didaktischer Text

Fallbeschreibung:

(a) Gymnasium, Mädchenklasse, 11. Schuljahr. Die Schülerinnen (9) stellen nach dem Aufwärmen auf Anweisung der Lehrerin verschiedene Stationen auf. Die Lehrerin hilft mit und macht detaillierte Anweisungen. Anschliessend versammelt sie die Schülerinnen vor der Faltwand, wo die konditionellen und koordinativen Fähigkeiten auf einem Plakat in einem Schema dargestellt sind. Die Lehrerin gibt eine kurze Erläuterung der Konditionsfaktoren, bevor sie zu den koordinativen Fähigkeiten überleitet, ohne diese aber namentlich zu erwähnen. (Zeitaufwand für die Theorie: 3 Minuten). Mit Hilfe eines Aufgabenblattes sollen die Schülerinnen nun die verschiedenen Stationen "ausprobieren". Reihenfolge und Zeit werden nicht vorgegeben.
(b) Die Schülerinnen bewegen sich sehr intensiv an den Stationen. Z.B. wird Volleyball über eine hochgestellte Matte gespielt. Weil durch die Matte die Sicht auf die Partnerin verdeckt ist, ergibt sich ein "blindes" Volleyballspiel. Eine andere Station besteht daraus, zwei unterschiedliche Bälle (Volley und Basketball) gleichzeitig zu prellen. U.s.f.
(c) Nach 25 Minuten werden die Schülerinnen wieder vor der Faltwand versammelt.
Lehrerin: "Ihr habt jetzt an den Stationen verschiedene koordinative Fähigkeiten trainiert. Welche Begriffe kommen euch dazu in den Sinn."
Eine Schülerin: "Gleichgewicht".
Da der Begriff auch im Schema der Lehrerin vorkommt (sie hält sich an HIRZ, 1976) heftet sie ein vorbereitetes Zettelchen an die Wand.
Andere Schülerin: "Gewandtheit".
Lehrerin: "Die Gewandtheit ist ein etwas älterer Begriff für Koordination und kann eigentlich synonym dafür verwendet werden."
Nachdem keine Antworten mehr kommen, verweist die Lehrerin auf einzelne Stationen, an denen die Schülerinnen vorher geturnt haben: "Beim Seilspringen z.B., was müsst ihr dort haben oder können, damit die Übung gelingt?" Eine Schülerin bringt den Begriff der Reaktion. Auch die anderen Begriffe werden durch dieses Frage - Antwortspiel von den Schülerinnen selbständig gefunden (Zeitaufwand: 4 Minuten).
(d) Die Schülerinnen haben nun nochmals Zeit an den zwölf Stationen zu üben und sollen herausfinden, bei welcher Station welche koordinative Fähigkeit geübt wird (ausgenommen die Stationen, die vorher schon im Gespräch erwähnt wurden). Nach ca. 10 Minuten lässt die Lehrerin die Stationen abbauen.
(e) Zum Schluss versammeln sich die Schülerinnen nochmals vor der Faltwand. Die restlichen Stationen werden noch je einer koordinativen Fähigkeit zugeordnet. Dies erfolgt reibungslos, es scheint für die Schülerinnen ziemlich einleuchtend zu sein. Bevor die Lehrerin zum Basketball überleiten will, meldet sich eine Schülerin mit der Frage: "Gibt es nächstes Mal eine Prüfung darüber?"(Zeitaufwand: 3 Minuten).


Fallinterpretation:
Die Frage der Schülerin ist sicherlich nicht ernst gemeint. Es geht ihr weniger um eine mögliche Prüfung, sondern um die ungewohnte Situation, dass in der Sportstunde theoretisiert wird. Die Fragestellung lässt sich ausbauen: Soll nun in der Turnstunde das gleiche Frage - Antwortspiel stattfinden, wie in den "Theoriefächern"? Soll wirklich auf Kosten der Bewegungszeit eine "Sitzzeit" stattfinden, wo über Sport nur gesprochen wird?
In der beschriebenen Unterrichtsstunde versucht die Lehrerin ihren Schülerinnen die koordinativen Fähigkeiten näher zu bringen. Sie stützt sich dabei auf Fachliteratur, was - wenn auch vereinfacht dargestellt - nicht zu kritisieren ist. Diese Fähigkeiten werden den Schülerinnen über die Bewegung näher gebracht. D. h. den Schülerinnen wird diese Theorie nicht einfach vorgegeben, sondern sie sollen die koordinativen Fähigkeiten über die Bewegung selbst herausfinden. Damit findet die Lehrerin einen geeigneten Kompromis zwischen reiner Theorievermittlung und unreflektiertem Sport treiben. Die reine "Sitzzeit" (10 Minuten; b,d) kann damit relativ zur Bewegungszeit (35 Minuten; c,e) tief gehalten werden. Weil anschliessend noch Basketball gespielt wird, verbessert sich dieses Verhältnis nochmals.
Es fehlt jedoch eine Lernkontrolle am Schluss der Sequenz. Als Kontrolle könnte den Schülerinnen die Aufgabe gestellt werden eigene Übungen zum Training der koordinativen Fähigkeiten zu erfinden. Man könnte die erste Bewegungszeit etwas abkürzen (b) oder diese Aufgabe in einer nächsten Stunde wieder aufnehmen.
Allerdings lässt es sich fragen, ob gerade die koordinativen Fähigkeiten sinnvoll sind, um mit reflektiertem Unterricht zu beginnen. Gibt es nicht wichtigere Themen in der Sporttheorie, die mit Gymnasiastinnen behandelt werden müssen? Oder sind es gerade die koordinativen Fähigkeiten, die die Schülerinnen brennend interressieren? Ich habe sie nicht gefragt und kann deshalb auch keine Antwort darauf geben. Wichtig bleibt trotzdem: Auch der Inhalt des reflektierten Unterrichts sollte nicht unreflektiert bleiben.
Damit ist die Zielsetzung der Reflektion angesprochen: Was will die Lehrerin mit diesem Theorieblock erreichen? Sollen die Schülerinnen einfach diese verschiedenen Formen lernen oder sensibilisiert werden auf die Sporttheorie? In Bezug auf die Schülermitbestimmung gäbe es sicher wichtigere Themen zu behandeln, als die koordinativen Fähigkeiten (z.B.: Spielregeln, Aufwärmen, Beweglichkeitstraining).
Reflexionen im Sportunterricht, die eine aktive Mitarbeit (oder besser gesagt: ein Mitdenken) der Schüler und Schülerinnen verlangen, bieten eine gute Voraussetzung für die Schülermitbestimmung. Ich meine, nur wenn die Schüler und Schülerinnen über genügend Hintergrundwissen verfügen, können sie selbst darüber bestimmen, wie sie gerne Sport treiben möchten und welche Inhalte ihnen am wichtigsten sind.