Fall Nr. 82

 

Jonglieren

Schlüsselsatz: "Du kannst dann später mit drei jonglieren, jetzt machen wir es mal mit zwei Bällen."
Stufe: Primarstufe
Bewegungsfeld: Spielen
Disziplin/Sportart: Jonglieren
Mit Schüler*innen interagieren: Differenzieren und Individualisieren
Textsorte: Chronik

Fallbeschreibung:

(a) Primarschule, 5. Klasse, 15 Schülerinnen. Die Lehrerin hat die Klasse in zwei Gruppen geteilt. Im Wechsel spielt eine Gruppe selbständig Badminton, während die anderen unter Anleitung der Lehrerin in das Jonglieren eingeführt werden.
(b) Die Einführung in das Jonglieren ist mit der ersten Gruppe bereits abgeschlossen. Der Gruppenwechsel steht an. Die Lehrerin schickt die erste Gruppe (7 Schülerinnen) zum Badmintonspielen und ruft die anderen zu sich. Während die Schülerinnen sich mit den herumliegenden Tennisbällen beschäftigen und zu "jonglieren" versuchen, ruft die Lehrerin Nicole zu sich.
Lehrerin: "Nicole, kannst du schon jonglieren?"
Nicole: "Ja, ein wenig, aber ich weiss nicht genau wie?"
(c) Eine weitere Schülerin (Helen) kommt hinzu.
Helen: "Ich kann mit Keulen jonglieren."
Lehrerin (erstaunt): "Was, du kannst mit Keulen jonglieren?"
Helen: "Ja."
Lehrerin: "Hast du es schon einmal mit Jonglierbällen versucht?"
Helen: "Ja, gerade vorhin."
Sie zeigt es mit drei Tennisbällen vor und es klappt ganz prima.
Lehrerin: "Sehr gut. Weisst du was, dann kannst du noch weiter Badminton spielen, dann geht es nämlich gerade auf. Wir jonglieren heute sowieso nur mit zwei Bällen."
(d) Helena geht zu der übrig gebliebenen Badmintonspielerin und die Lehrerin beginnt mit der Einführung ins Jonglieren. Die Schülerinnen müssen zuerst mit einer Hand einen Ball aufwerfen und mit der gleichen Hand wieder fangen. Das ganze links und rechts. Anschliessend sollen sie den Ball unter dem Bein hochwerfen und ihn mit der anderen Hand fassen."
Lehrerin: "Wenn das auch klappt, könnt ihr den Ball hinter dem Rücken hochwerfen und mit der gleichen Hand wieder fangen."
(Die Schülerinnen probieren es aus)
Nicole: "Und wenn das auch klappt?"
Lehrerin: "Hast du es mit beiden Händen probiert?"
Nicole zeigt es mit beiden Händen vor.
Lehrerin: "Sehr gut!"
Die anderen Schülerinnen bekunden aber noch sichtliche Mühe mit der zuletzt gestellten Aufgabe.
(e) Zwei Minuten später ruft die Lehrerin wieder alle Jongliererinnen zu sich und erklärt die nächste Aufgabe.
Lehrerin: "Jetzt nehmt ihr zwei Bälle", sie unterbricht, weil mehrere Schülerinnen bereits einen zweiten Ball holen, "nur mal zuschauen."
Nicole hat unterdessen bereits drei Bälle in der Hand.
Lehrerin: "Nicole, wieviele Bälle sollst du nehmen?"
Nicole: "Zwei."
Lehrerin: "Eben."
Nicole: "Ich wollte es nur mal mit drei Bällen probieren."
Lehrerin: "Du kannst dann später mit drei jonglieren, jetzt machen wir es mal mit zwei Bällen."
(f) Die Lehrerin zeigt die Aufgabe vor. Sie kniet sich vor der Hallenwand auf den Boden und spielt die beiden Bälle wie beim Billard von einer Hand in die andere. Die Bälle rollen dabei am Boden und kommen via Wand wieder zurück.


Fallinterpretation:
In der zweiten Gruppe, die zum Badmintonspielen kommt, klappt die Paarbildung nicht, weil die Zahl der Schülerinnen in dieser Gruppe ungerade ist. Die Lehrerin löst das Problem, indem sie eine fortgeschritte Jongliererin wieder zum Badminton schickt (d). Die betroffene Schülerin (Helen) verzichtet kommentarlos auf das Jonglieren. Anders Nicole, sie bleibt zwar bei den Jongliererinnen, würde es aber gerne mit 3 Bällen versuchen (e). Die Lehrerin bremst sie und verlangt von ihr, dass sie es wie die anderen mit zwei Bällen übt (e). Beide Situationen (Helen und Nicole) zeigen, dass die Lehrerin nicht bereit ist ihren Unterricht zu differenzieren. Während es bei Helen noch eine halbherzige Begründung dafür geben kann, ist bei Nicole nicht ersichtlich, warum sie sich dagegen sperrt.
Eine mögliche Erklärung für das Verhalten der Lehrerin ist vielleicht in der Angst zu suchen, dass sie den Überblick verlieren könnte. Vielleicht möchte sie auch einfach alle Schülerinnen auf das gleiche Niveau bringen, damit sie in der nächsten Stunde auf einem ausgeglichenerem Leistungsniveau weiterfahren kann.
Ich finde beide Begründungen wenig stichhaltig. Gerade bei der sehr individuellen Sportart Jonglieren ist es nicht sinnvoll, wenn mit allen Mitteln ein einheitliches Leistungsniveau angestrebt wird (sofern dies überhaupt möglich ist). Für ein Basketballspiel mag es vielleicht noch gelten, wenn die Schülerinnen nicht allzu grosse Leistungsunterschiede zeigen. In diesem Fall aber wird Helen von der Lehrerin unnötig in ihrem Lernwillen gestoppt (e). Auch Nicole wird von einem Lernfortschritt abgehalten (d). Ob ihr das egal ist, kann ich nicht mit Sicherheit feststellen, die Lehrerin hätte zumindest die Betroffenen fragen müssen, ob sie auf das Jonglieren verzichten möchten.
Ich sehe gerade beim Jonglieren eine gute Möglichkeit, das Leistungsniveau individuell den Schülerinnen anzupassen. Während Anfänger noch mit zwei Bällen beschäftigt sind, können Fortgeschrittene bereits mit drei und mehr Bällen jonglieren oder sie versuchen es einmal mit Keulen oder Ringen. Die Fortgeschrittenen könnten auch als Tutoren eingesetzt werden. Dabei würde der Unterricht vielleicht etwas unübersichtlicher, was aber dem Lernfortschritt der Schülerinnen nicht abträglich ist. Die Lehrerin könnte sich, wie im oben geschilderten Unterricht, von einer Schülerin zu nächsten bewegen, Korrekturen und auch mal ein motivierendes Wort anbringen.
Obwohl die Schülerinnen sich ausdrücklich um eine Mitbestimmung bemüht haben, hat die Lehrerin eine gute Möglichkeit der Schülermitbestimmung ausgelassen. Was Helen (c) betrifft, so hätten die anderen sicher auch zu dritt Badminton spielen können.