Fall Nr. 71

 

Hip-Hop (Streetdance)

Schlüsselsatz: "Wie lange geht es noch?"
Stufe: Sekundarstufe I
Bewegungsfeld: Gymnastik, Darstellen, Tanzen
Disziplin/Sportart: Hip Hop
Inhalte präsentieren: Vorzeigen-Nachmachen; Darbieten und Demonstrieren | Üben und Trainieren
Textsorte: Didaktischer Text

Fallbeschreibung:

(a) 8. Schuljahr, Sekundarschule. Die Mädchen und Knaben haben sich in der Mitte versammelt. Der Lehrer informiert kurz über die kommende Stunde: Aufwärmen mit einem Tanz, Geräteturnen und am Schluss, falls die Zeit reicht ein Spiel. Beim Wort Hip-Hop hört man ein positives Echo in der Klasse.
(b) Die Schüler und Schülerinnen haben sich an der Stirnseite aufgestellt, während der Lehrer die ersten Schritte des Tanzes (Hopserhüpfen) vorzeigt. Es herscht eine grosse Unruhe und der Lehrer muss öfters disziplinarisch eingreifen: "So, Matthias mach dich bereit!". Die erste Länge wird gemeinsam ohne Musik durchgetanzt. Die Mädchen sind eher in den vorderen Reihen, die Knaben eher hinten. Während es bei den Mädchen mehr oder weniger klappt, zeigen die Knaben mehr ein Laufen, statt ein Hüpfen. Auf der anderen Hallenseite angekommen, muss der Lehrer erneut um Ruhe bitten, damit er das weitere Vorgehen erklären kann: " Wir machen es nochmals durch, diesmal mit Musik."
(c) Der Lehrer tanzt voran und zählt laut den Takt: "Eins, zwei, drei, vier, Posing - stehen, drehen. stehen." Die Tanzenden folgen ihm mehr oder weniger und können mehrheitlich auch den Takt halten. Die Musik wird abgedreht und der Lehrer wendet sich der Klasse zu: "Wir müssen etwas machen, damit Euch die Puste ausgeht, dann schwatz ihr wahrscheinlich auch nicht mehr so viel." Er führt nun zwei neue Elemente am Boden ein. Nach zweimaligem Vorzeigen machen die Schüler und Schülerinnen zaghaft mit. Wieder tanzen alle gemeinsam eine Hallenlänge.
(d) Um weiterfahren zu können muss der Lehrer erneut um Ruhe bitten. Ein Schüler will lieber spielen als tanzen, worauf der Lehrer antwortet:" Wenn wir so weiterfahren, reicht es wohl nicht mehr zum Spiel." Nun werden die beiden Elemente zusammengefügt: Hopserhüpfen, Posing, Bodenteile - Hopserhüpfen.... . Der Lehrer stellt die Musik an und alle "tanzen" gemeinsam auf die andere Hallenseite. Nur wenige können dem schnellen Rhythmus folgen.
(e) Teilweise mit Widerstand der Betroffenen teilt der Lehrer die Klasse in fünf Kolonnen auf. Zuvorderst stehen die Mädchen, welche die Folge am besten gemeistert haben. Dahinter werden die Knaben aufgeteilt. Der Lehrer erklärt kurz die Organisationsform, muss aber erneut um Ruhe bitten. Immer fünf zusammen sollen eine Hallenlänge tanzen, währen die restlichen der Kolonne zuschauen und warten. Die Runde beginnt mit den Ersten jeder Kolonne. Der Lehrer springt jedesmal zurück, damit er bei allen Gruppen mittanzen kann. Dieselbe Organisation bei der "Rückrunde".
(f) Ohne Musik wird nun der Bodenteil verlängert. Der Lehrer zeigt es wieder zweimal vor, bevor alle in einem sehr langsamen Tempo mitmachen. Mehrere bekunden Mühe mit den neuen Bewegungen, eine Schülerin meint sogar, dass es mit den Takten nicht aufgehe. Der Lehrer verneint dies. Anschliessend üben alle selbständig die neue Form, während der Lehrer einzelne korrigiert. Die meisten Schüler und Schülerinnen stehen allerdings nur herum. Eine Schülerin fragt den Lehrer: "Können sie mir nicht einen einfacheren Teil beibringen, für mich ist dieser Teil zu schwierig."
Lehrer: "Nein, es ist nicht schwierig, wir machen es noch einmal langsam durch."
Eine andere Schülerin: "Wie lange geht es noch?"
Lehrer: "Nicht mehr lange."
(g) Er versammelt alle wieder vor der Hallenwand und sie gehen die neuen Elemente nochmals langsam durch. Wieder dauert es sehr lange, bis Ruhe herrscht und der Lehrer die Elemente überhaupt vorzeigen kann: "Ihr müsst euch wirklich konzentrieren, damit das Ganze auch klappen kann!" Ein Durchgang wird ohne Musik getanzt. Auf dem Rückweg läuft Musik. Es folgt ein zweiter Durchgang. Nun werden alle Elemente verbunden. Alle tanzen gemeinsam. Die Organisationsform in Kolonnen wird zwar vom Lehrer aufgehoben, trotzdem behalten die Schüler und Schülerinnen ihre Kolonnen bei, so dass nur immer fünf am Tanzen sind. Es folgen zwei weitere Durchgänge mit der gesamten Bewegungsfolge. Nur zwei bis drei Schülerinnen tanzen sie richtig, die anderen Knaben und Mädchen geben nach dem ersten Bodenteil auf und beenden die Länge "zu Fuss".


Fallinterpretation:
Nach anfänglicher Begeisterung für das Tanzen (a) beginnen sich die Schüler und Schülerinnen sehr schnell zu langweilen (b). Ihre Lustlosigkeit und Unruhe lässt sich sicher durch das schwierige Alter (14 -16 Jahre) erklären. Die Begeisterungsfähigkeit für ein neues Thema lässt nach acht und mehr Schuljahren deutlich nach. Ungünstig ist in diesem Fall sicher auch der koedukative Unterricht, zeigen doch die Mädchen sehr viel mehr Geduld als die Knaben (f).
Trotzdem stellt sich die Frage, ob der Lehrer mit einer anderen Strategie und dem gleichen Tanz nicht mehr erreicht hätte. Wir müssen davon ausgehen, dass das positive Echo der Schüler und Schülerinnen am Anfang der Stunde echt ist. Weshalb sie dann trotzdem sehr schnell unruhig werden, bleibt offen. Eine mögliche Erklärung ist, dass die Schüler und später auch die Schülerinnen vom Tanz des Lehrers enttäuscht sind. Ihre Vorstellungen von Hip-Hop decken sich nicht mit der Form, wie sie vom Lehrer vorgetanzt wird. Diese Vermutung wird bestätigt von der Frage einer Schülerin, ob sie nicht etwas einfacheres tanzen könnten (f). Der Begriff Hip-Hop ist prädestiniert, um unterschiedlich interpretiert zu werden. Während die einen Assoziationen zur Musik knüpfen, verstehen die anderen darunter einen simplen Strassentanz. Alle müssen dabei enttäuscht werden. Entweder stimmt die Musik nicht, oder die Schrittfolgen entsprechen nicht dem Bild, das sie sich vom Streetdance gemacht haben.
Der Lehrer reagiert mit verschiedenen Mitteln auf die Unruhe und Lustlosigkeit der Klasse. Zuerst versucht er durch eine Intensitätssteigerung Ruhe in die Klasse zu bringen (c). Als dies nichts nützt, versucht er es mit der Drohung, dass am Ende der Stunde nicht mehr gespielt werde (d). Als auch das nichts nützt, versucht er es mit einem Wechsel der Organisationsform (e). Obwohl er nun zusammen mit je 5 Schülern oder Schülerinnen tanzt, bekunden sehr viele Schüler und auch einige Schülerinnen Mühe mit der Folge (f). Er verlangsamt das Tempo und zeigt den Tanz ein weiteres Mal vor. Trotz allem Bemühen des Lehrers muss die Sequenz als gescheitert betrachtet werden (g), können doch die meisten der Klasse die Folge nicht einmal in der Grobform tanzen.
Dem Lehrer kann methodisch keinen Vorwurf gemacht werden. Er versucht nach allen Regeln seiner Kunst, die Sache in den Griff zu bekommen. Was hätte er anders machen können, oder wo liegen die Gründe für das Scheitern? Wie bereits erwähnt, liegt es nicht an der mangelnden Begeisterungsfähigkeit der Schüler und Schülerinnen. Aber hier zu Anfang der Stunde wäre ein Nachfragen sinnvoll: Was versteht die Klasse unter Hip-Hop? Welche Musik gehört für sie zu einem Street-Dance? Haben die Schüler und Schülerinnen selber Erfahrungen mit Hip-Hop. Aus diesem (kurzen) Gespräch würde es für den Lehrer transparenter, dass seine Vorstellungen mit den Vorstellungen der Schüler und Schülerinnen divergieren. Er könnte eventuell sogar auf Musikwünsche der Klasse eingehen oder sie auffordern, das nächste Mal selber eine Musikkassette mitzubringen. Es ist anzunehmen, dass die Meinungen auch innerhalb der Klasse auseinander gehen. In diesem Fall wäre es sinnvoll, den Tanz offener zu gestalten, d.h. einzelne Teile den Tanzenden selbst zur Gestaltung zu überlassen.
Weil die Ursache für das Scheitern nicht in der Wahl einer falschen Unterrichtsmethode liegt, kann der Lehrer auch auf die praktizierte Methodenvielfalt verzichten. Trotz einer anderen Thematisierung des Tanzes, kann er die Zielsetzung (Aufwärmen) beibehalten. Unabhängig davon, wie genau und zu welcher Musik die Schüler und Schülerinnen diesen Hip-Hop tanzen, wird die aufwärmende Wirkung beibehalten. Ich meine, dass der Lehrer in der beschriebenen Lektion zu sehr auf seiner persönlichen Thematisierung beharrt. Zudem gibt er den Schülern und Schülerinnen nicht einmal die Möglichkeit, ihre Vorstellungen über diesen emotionsgeladenen Begriff "Hip-Hop" zu äussern.