Fall Nr. 81

 

Handstand

Schlüsselsatz: "Okay, wir probieren es dann aus."
Stufe: Sekundarstufe II
Bewegungsfeld: Bewegen an Geräten
Disziplin/Sportart: Sportunterricht
Inhalte präsentieren: Üben und Trainieren
Mit Schüler*innen interagieren: Differenzieren und Individualisieren
Textsorte: Chronik

Fallbeschreibung:

(a) Gymnasium, 11. Klasse, 7 Schülerinnen. (Ziel der Stunde: Handstandüberschlag.) Nach einem Tanz zum Aufwärmen erklärt die Lehrerin die folgende Spannungsübung. Zu zweit soll ein Handstand geübt werden. Eine Schülerin fasst die andere um die Hüften, während diese im Handstand steht. Jede Schülerin soll drei Handstände machen. Eine Schülerin (Nadia) meldet sich und erklärt der Lehrerin, dass sie den Handstand nicht turnen kann.
(b) Die Lehrerin will Hilfe stehen:
Lehrerin: "Greif an den Boden und versuch es."
Nadia: "Nein, es geht nicht."
Lehrerin: "Versucht es, wir werden dir helfen."
Nadia: "Das ist lieb, aber es geht nicht."
Lehrerin: "Hast du den Handstand noch nie geturnt?"
Nadia: "Doch, aber es geht irgendwie nicht. Vielleicht mit einer Matte?" (Sie zeigt beiläufig auf eine der bereitstehenden dicken Matten).
Lehrerin: "Es kann dir nichts passieren. Also, wir machen es dann anschliessend auf einer dünnen Matte."
Nadia: "Lieber auf einer dicken Matte."
Lehrerin: "Dort kannst du dich aber nicht aufstützen?"
Nadia: "Nein, vor der Matte - und wenn ich dann falle, drehe ich mich auf die Matte ab."
Lehrerin: "Okay, wir probieren es dann aus."
(c) Der Lehrerin fährt mit einer weiteren Spannungsübung (kein Handstand) fort. Nadia macht dabei zögernd mit. Anschliessend erklärt die Lehrerin die Geräteaufstellungen für die folgenden Übungen. An verschiedenen Stationen soll mit Geräte- oder Partnerhilfe der Handstandüberschlag geübt werden. Nachdem alle Geräte aufgestellt sind, erklärt die Lehrerin eine weitere vorbereitende Partnerübung.
(d) Diese Übung gleicht derjenigen von vorhin, wo zu zweit der Handstand geübt wurde. Jetzt soll aber mit Schwung versucht werden in den Handstand zu kommen. Die Partnerin soll den Schwung auffangen, indem sie ihre Kollegin um die Hüfte fasst. Weil Nadia diese Übung wieder nicht turnen kann, wird sie von der Lehrerin auf später vertröstet.
(e) Nachdem die anderen diese Partneraufgabe gelöst haben erklärt die Lehrerin die einzelnen Stationen. Einzelne Übungen lässt die Lehrerin von allen (ausser Nadia) einmal turnen, damit klar wird, wie Hilfe gestanden werden muss. Andere Stationen turnt sie selbst einmal vor. Insgesamt gibt es 6 Stationen zur Auswahl.
(f) Nachdem alle Schülerinnen an den drei einfachsten Station mit üben begonnen haben, kümmert sich die Lehrerin um Nadia (unterdessen sind 20 Minuten vergangen, seit Nadia das erste mal auf ihre Probleme hingewiesen hat.). Nadia soll auf einer dünnen Weichmatte mit der Hilfe der Lehrerin in den Handstand schwingen. Der Versuch misslingt, trotz grossen physischen und motivationalen Hilfen der Lehrerin.
(g) Während die Lehrerin mit drei fortgeschrittenen Schülerinnen an einer Station beschäftigt ist, versucht Nadia selbständig vor einer dicken Matte den Handstand. Der Versuch gelingt mehr oder weniger. Ein zweiter Handstand, den sie vor der dicken Matte probiert, um sich anschliessend auf diese abzurollen, könnte man als gelungene Grobform bezeichnen.
(h) Die Lehrerin, die diesen Versuch nicht gesehen hat, weil sie mit anderen Schülerinnen beschäftigt war, ruft kurz nach diesem zweiten geglückten Handstand zu Nadia: "Nadia probiert doch noch einmal den Handstand...!"


Fallinterpretation:
Nadia möchte zwar den Handstand üben, ist aber mit der Ganzheitsmethode der Lehrerin überfordert (b). Trotzdem klappt der Versuch erst nach langer Zeit (g), nachdem alle anderen schon wacker den Überschlag üben. Wir können davon ausgehen, dass die Schülerin nicht unmotiviert ist, sonst würde sie nicht selbständig den Handstand probieren (g). Warum gelingt es der Lehrerin trotzdem nicht, schon ganz am Anfang (b) der Schülerin den Handstand beizubringen? An der mangelnden Vorbereitung der Lehrerin kann es nicht liegen, sie hat immerhin 6 Stationen vorbereitet, um den Handstandüberschlag einzuführen. Sicher hat sie auch damit gerechnet, dass einzelne Schülerinnen den Handstand nicht ganz beherrschen. Darum hat sie am Anfang der Stunde den Handstand repetieren lassen (a).
Wir können allerdings davon ausgehen, dass Nadia die einzige Schülerin ist, die so grosse Mühe mit dem Handstand bekundet. Sonst wäre es nicht einzusehen, warum die Lehrerin erst nach 20 Minuten den Handstand mit Nadia individuell übt. Im Grunde genommen könnte man die Situation so stehen lassen, auch wenn eine Lehrkraft sehr differenziert unterrichtet, wird es immer Wartezeiten für die Schüler geben. Zugegeben, die Wartezeit ist in diesem Falle etwas lange ausgefallen, und die Lehrerin könnte etwas früher auf die Schülerin eingehen.
Trotzdem meine ich, dass die Lösung an einem anderen Ort zu finden ist. Nadia bemerkt schon sehr früh (b), dass sie gerne mit einer dicken Matte üben möchte. Die Lehrerin widerspricht dem zurecht, weil diese zu weich ist, um den Handstand halten zu können. Sie verspricht ihr zwar später das Teil so zu üben (b), vergisst es und nimmt dann trotzdem dünne Matten (f). Auch dieser Versuch misslingt und erst als Nadia das erste mal mit einer dicken Matte den Handstand probiert, klappt es (g).
In diesem Fall wäre es besser gewesen, die Lehrerin hätte den Vorschlag der Schülerin von Anfang an berücksichtigt, auch wenn dieser den methodischen Vorstellungen der Lehrerin widerspricht. Für Nadia ist der Handstand offensichtlich ein Problem der Angst und mit Hilfe der dicken Matte kann sie diese Angst überwinden. Ich meine dass in solchen Fällen, wo die Sicherheit der Schülerinnen nicht gefährdet ist, auch uneinsichtige materialen Hilfen erlaubt werden sollten. Besonders dann wenn diese - wie im besprochenen Fall - ohne grossen Aufwand zur Verfügung stehen. Eine Mitbestimmung über die materialen Hilfen hätte zum schnelleren Lernen des Handstandes von Nadia geführt. Vielleicht hätte sie zu den anderen Schülerinnen aufschliesen können. So aber bleibt sie auch für eine nächste Stunde wieder die Aussenseiterin.