Fall Nr. 477

 

Disziplin, Heterogenität und Verweigerung

Stufe: Sekundarstufe II
Bewegungsfeld: Spielen
Disziplin/Sportart: Fussball
Textsorte: Didaktischer Text

Fallbeschreibung:

Seit den Herbstferien 2010 unterrichte ich in der Gewerblich-industriellen Berufsschule Liestal im Fach Sport. Seit dem Sommer 2011 konnte ich mein Pensum auf 11 Stunden erhöhen, worunter drei Klassen mit nur 6 Personen zu finden sind. Kleine Klassen bereiten mir nach wie vor Mühe, da viele Sportarten in solchen Kleingruppen schlecht umsetzbar sind.
Anfangs Dezember 2011 erlebte ich diesbezüglich einen Höhepunkt mit der Klasse HP 1A.

Ausgangslage:
Klasse: HP 1A = Haustechnikpraktiker, zweijährige Lehre
Schüler: 6 Schüler im Alter zwischen 15-19 Jahren, sehr heterogen
Fach: Sport
Stunde: Dienstag, 6. Dezember, 2011, 11.40-12.25 Uhr
Inhalt: Fussball

Fallgeschichte:
Bevor ich zu der besagten Lektion komme, möchte ich eine einleitende Bemerkung zur Klasse machen: Die Klasse hatte zu Beginn des Schuljahres sehr Mühe mit einer jungen Frau als Sportlehrerin. Sie hörten nicht zu, machten nicht, was ich sagte, und machten oft frauenfeindliche Bemerkungen im Sportunterricht. Dies spitzte sich so zu, dass sie sich in der dritten Stunde weigerten die Tischtennisplatte aufzustellen, da sie lieber Fussball spielen wollten. Da ich nicht von meinem Plan abweichen wollte (wir hatten schon in den ersten Wochen Fussball gespielt), eskalierte die Situation, sodass ich mich gezwungen fühlte, nach der Stunde eine E-Mail an den Klassenlehrer zu schicken. Dieser sicherte mir sofort zu, mich in der folgenden Woche im Unterricht zu besuchen. Nach dem Besuch behandelte er im ABU spontan auch noch das Thema "Frauen in Autoritätspositionen" in seinem eigenen Unterricht. Seit dem Besuch des Klassenlehrers ist die Disziplin kein Problem mehr, doch je länger je mehr trat eine neue Problematik hervor: die Heterogenität der Klasse. Den Höhepunkt erreichten wir am Dienstag, den 6. Dezember, in einer weiteren Fussball-Spielstunde. Zu Beginn der Stunde musste ich noch einige Fragen betreffend Absenzen und Entschuldigungen klären, sodass sich ein Schüler langweilte und einen Fussball holte. Ich hatte noch nichts bezüglich der Stunde gesagt, die Schüler wussten also in diesem Moment noch nicht, dass das Thema der Stunde Fussball sein würde. Ich wies den Schüler zurecht, er könne nicht einfach davonlaufen, sagte ihm aber, er könne den Ball bei mir lassen. Nachdem ich der unruhigen Klasse das Ziel der Stunde und den Weg dahin erklärt hatte, stellten sie relativ rasch die Tore auf (Unihockeytore). Zum Aufwärmen sollten sie in einem Hallenviertel im Chaos rennen und einander immer in der gleichen Reihenfolge den Ball zupassen. Das Aufwärmen klappte mehr schlecht als recht, da die Schüler mehr Gefallen daran fanden, den schlechtmöglichsten Pass zu spielen, damit der nächste dem Ball hinterhereilen musste. Zudem schlich sich schon hier die Heterogenität der Fussballfähigkeiten ein erstes Mal ein. Die Klasse besteht nämlich aus folgenden Fussballniveaus: 1 aktiver Fussballer Andreas, 2 ehemalige Fussballer Stefan und Florian, 2 polysportiv starke Schüler Manuel und Roman sowie 1 ballunbegabter Schüler Mischa. Niemand wollte Mischa den Pass geben, sodass ich das Aufwärmen kurz unterbrach. Alle ausser Mischa liessen ihrem Unmut freien Lauf, Mischa hingegen stand einfach da und schaute unbeteiligt zum Fenster raus. Damit auch Mischa die Möglichkeit hatte, den Ball in den Füssen zu halten, machte ich noch eine Doppelpassübung, die ca. 2 Minuten so verlief, wie ich es wollte. Danach bildete ich die Mannschaften mit Hilfe von Jasskarten, um Diskussionen vorzubeugen, was auch funktionierte. Nach ca. 5 Minuten Spiel hatte ich gefühlte 100x den Namen Mischa in unzähligen Lautstärken gehört, jeweils weil dieser entweder den Ball nicht annehmen konnte oder einen Fehlpass produzierte. Ich machte darum eine kurze Pause, um die Schüler darauf hinzuweisen, dass eine erfolgreiche Ballannahme auch vom Passgeber abhängig ist. Weiter habe ich in der Pause nochmals neue Mannschaften gebildet (wieder mit den Jasskarten). Das Spiel lief wie zuvor weiter, ohne dass Mischa oder ich einen Kommentar abgaben. Nach weiteren 10 Minuten änderte ich ein letztes Mal die Teams, worauf es zu folgender Situation kam: Stefan war zufällig bei jeder Teambildung in das Team vom Mischa eingeteilt und beim dritten Mal weigerte er sich in diesem Team weiterzuspielen. Er verlangte von mir, ich solle ihn in das andere Team "stecken" und falls niemand ins Team von Mischa wolle, könne ja ich als Lehrerin mit ihm spielen. Schliesslich wäre das mein Job. Ich machte Stefan darauf aufmerksam, dass es halt einfach Pech sei, dass er dreimal im vermeintlich schwächeren Team sei, aber ich die Teams nicht ändern würde. Daraufhin schrie Stefan mich an, ich könne ihn mal und er mache jetzt nicht mehr mit. Ich erklärte ihm, dass er in diesem Fall zwei Möglichkeiten habe. Entweder er spiele ohne Widerrede mit und strenge sich weiter an oder er könne aus der Halle gehen. Hätte ich ihn in der Halle gelassen, hätte er die ganze Klasse mit Sprüchen über Mischa unterhalten. Stefan aber wollte sich für keine der beiden Möglichkeiten erwärmen, sodass ich ihm die Entscheidung abnahm und ihn aus der Halle verwies. Stefan blieb stehen und weigerte sich, die Halle zu verlassen. Nach fünfminütigem Hin und Her war Stefan noch immer in der Halle, sodass mir der Kragen platzte und ich sagte: "Entweder sie gehen jetzt sofort aus der Halle oder ich werde gehen!" Die Antwort von Stefan kam schnell: „Ich gehe bestimmt nicht aus der Halle", worauf ich mich aus der Halle begab und ins Lehrerzimmer ging. Als ich zum Stundenende wieder in die Halle ging, war diese leer, das Material weggeräumt, die Lichter aus und die Schüler verschwunden.