Fall Nr. 37

 

Alles war schlecht

Schlüsselsatz: "Nun, ich habe mich über Sie geärgert, weil Sie uns immer zu nur kritisiert haben. Nichts haben wir heute gut gemacht. Alles war schlecht. Sie haben uns gar nie gelobt!"
Stufe: Tertiärstufe
Bewegungsfeld: Laufen, Springen, Werfen
Disziplin/Sportart: Hürdenlaufen
Inhalte präsentieren: Vorzeigen-Nachmachen; Darbieten und Demonstrieren
Mit Schüler*innen interagieren: Beobachten – Beurteilen – Korrigieren und Feedback geben
Textsorte: Didaktischer Text

Fallbeschreibung:

Es ist Montagnachmittag 15.30 Uhr. Ich erwarte meine 2D, eine reine Mädchenseminarklasse. Ein Teil der Klasse beeilt sich wie üblich frühzeitig in die Halle, begrüßt mich mit einem freundlichen "Grüezi, Frau N.", schnappt sich einen Fussball und beginnt sich ihn in der Gruppe zuzuspielen. Andere Schülerinnen spazieren ziemlich pünktlich in die Halle, setzen sich an die Wand und plaudern über Erlebtes. Die letzten Mädchen kommen wie oft 1-2 Minuten zu spät mit der Ausrede: " Es tut uns leid Frau N., aber die Toiletten waren besetzt". Mich ärgert diese Erklärung immer wieder weil ich weiss, dass die Minuten nicht beim Warten, sondern beim Rauchen oder Plaudern verloren gingen.
Eine Schülerin ist 2 Jahre älter als ihre Kolleginnen. Sie gehört in der Regel zu jenen Schülerinnen, die auf die Minute genau mit den Schuhen in den Händen die Halle betreten.
Sie hat nach dem 10. Schuljahr noch ein Jahr das Arbeits- und Hauswirtschaftsseminar besucht und besitzt im Sport in verschiedenen Bereichen gute Grundlagen. Über spezielles Können verfügt sie im Schwimmen und Snowboarden.
Auch heute kommt jene Schülerin gerade noch rechtzeitig in die Halle, setzt sich auf den Boden und schnürt sich wie gewohnt die Schuhe. Nachdem ich Sie begrüsst habe, murmelt sie ein knappes " Grüezi Frau N." und wendet sich wieder Ihren Schuhen zu. Aus Ihrem Gesichtsausdruck schliesse ich, dass sie heute nicht besonders drauf ist.
Mit einem schwachen Pfeifen bitte ich die Fussballspielerinnen heran, damit wir mit der Lektion beginnen können.
Nach dem Einlaufen erkläre ich der Klasse, wie sie die Hürden aufstellen sollen. Die Schülerinnen sind unkonzentriert und das Einrichten dauert viel zu lange. Ich hatte erwartete, dass die Mädchen motivierter an das Thema herangingen, denn ich weiss dass der größere Teil der Klasse noch nie Hürden gelaufen ist. Bis jetzt hatte ich die Erfahrung gemacht, dass andere Klassen sich darauf freuten die neue Bewegung kennenzulernen.
Während der Lektion versuche ich die Klasse Schritt für Schritt an eine Grobform des Hürdenlaufens heranzuführen. Aber irgendwie gelingt dies nicht. Ich korrigiere, gebe Tips, zeige ein Reihenbild... ! Es kommt mir vor, als ob die Schülerinnen immer mit den selben Fehlern über die Hürden laufen. Und Stefanie? Für Sie, die vieles schon kennt und kann, sollte es doch eine Herausforderung sein! Doch auf meine Tips reagiert Sie ziemlich desinteressiert und murmelt unwirsch etwas vor sich hin. Ich gebe zu, etwas irritiert und unerfreut über die Reaktion der Schülerinnen zu sein. Entscheide aber nicht speziell auf die Situation einzugehen und fahre wie geplant mit der Lektion fort. Meine folgenden Korrekturen sind nicht mehr so aufbauend, wie sie sein sollten! Ich realisiere, dass sich ein Teil der Klasse immer mehr von mir entfernt. Auch das abschließende Spiel kann nicht helfen die Stimmung in der Halle wieder etwas aufzuheitern. Es ist 16.15 Uhr, die Lektion ist zu Ende. Die Mädchen verlassen die Halle zum Duschen. Die Schülerin ist die Letzte, die ihre Wertsachen zum Kasten herausnimmt. Kurz entschlossen fordere ich sie auf mir zu sagen, was ihr heute nicht gepasst hätte. "Nein, nein" wehrt sie ab, und wendet sich zum Gehen. "Es würde mich aber wirklich interessieren", interveniere ich. "Ach, dass würde doch nichts bringen!" meint sie. " Warum nicht ?" frage ich sie. "Weil, weil... Sie doch nicht verstehen."-" Gib mir doch eine Chance und rede mit mir."-"Nun, ich habe mich über Sie geärgert, weil Sie uns immer zu nur kritisiert haben. Nichts haben wir heute gut gemacht. Alles war schlecht. Sie haben uns gar nie gelobt!" Dazu konnte ich ehrlich gesagt nicht mehr viel sagen. Zum Abschied meinte Sie aber noch versöhnlich:" Vielleicht waren wir heute ja auch etwas mühsam, dass kann schon sein!"


Fallinterpretation:
Interpretation der Unterrichtssituation
Die Seminarklasse besteht aus 18 Mädchen. Eigentlich ist es eine sehr sportliche, lebhafte Gruppe. Die Charakteren und Interessen der Schülerinnen sind ziemlich verschieden, sodass Sich in der Klasse verschiedene kleine Grüppchen gebildet haben. Währenddem die einen Schülerinnen ein fast übertrieben fürsorgliches Verhältnis zueinander pflegen sind andere Schülerinnen in Ihrem Verhalten zueinander neutral.
Ich unterrichte die Klasse eigentlich gerne, finde sie spannend in der Zusammensetzung. Vereinzelt aber macht mir diese Zusammensetzung auch zu schaffen. Oft sind einzelne Schülerinnen unkonzentriert und mehr mit Ihren Kolleginnen beschäftigt, als mit dem Stoff. Vielleicht verhindert das intensive Interesse an der Befindlichkeit der Kolleginnen, dass sich die Klasse tiefer auf ein Thema oder eine Sache einlassen kann. Oft gehe ich nach der Stunde mit dem Gedanken aus der Halle:" Mit dieser Klasse wäre eigentlich mehr möglich gewesen!"
Es fällt den Mädchen schwer, sich auf einen seriösen Übungsprozess einzulassen. Und dies wiederum hat zur Folge, dass Sie kein Interesse für die eigene Bewegungsqualität entwickeln können. Es ist mir bewusst, dass ich in diesem Bereich hohe Anforderungen an die Schülerinnen stelle. Ich verlange, dass sie sich auf einen Lernprozess einlassen und sie sollen Ihren Geist dabei einsetzten. Ich erwarte, dass sie Ihren Beitrag zum Gelingen des Unterrichts leisten. Es soll den Schülern an einem Seminar bewusst werden, dass sie den Sportunterricht nicht nur als Spasskonsumenten besuchen können. Mir selber fällt es als Lehrperson manchmal schwer, spontan auf Stimmungen oder Befindlichkeiten innerhalb einer Klasse einzugehen. Oft sind Schüler in den späten Nachmittagsstunden schon ziemlich müde und ausgelaugt. Wahrscheinlich gelingt es mir dann nicht, den Schülern mit dem nötigen Verständnis gegenüber zu stehen. Vielleicht würde ich über das Ganze
gesehen mehr erreichen, wenn ich in solchen Momenten etwas freier wäre und meine Erwartungen und Zielsetzungen besser an die Situation anpassen würde.
In der erwähnten Lektion ist es mir nicht gelungen, die Schülerinnen für den Lernprozess zu gewinnen. Die Schülerin hatte mit Sicherheit recht, wenn sie sagt, ich hätte zu wenig positive Rückmeldungen gegeben. Die Atmosphäre zwischen den Schülerinnen und mir war angespannt und unfreundlich. Unter solchen Voraussetzungen ist Lernen und Lehren nicht möglich.
Anstatt mich um eine Verbesserung der Situation zu bemühen, indem ich z.B individuell auf einzelne Schülerinnen eingehe etc...., entfernte ich mich mit den oberflächlichen Pauschalkorrekturen immer mehr von der Klasse.
Meine Enttäuschung über das Desinteresse der Schülerinnen am Hürdenlaufen bestimmt den weiteren Verlauf der Lektion. Mein Handeln ist ebenso unmotiviert wie jenes der Mädchen.
Wahrscheinlich nehme ich das oft von der Tageslaune bestimmte Verhalten der Schülerinnen auch zu persönlich. Im Nachhinein denke ich, war mein Entscheid "nicht speziell auf die Situation einzugehen" falsch war. Besser hätte ich die Stunde unterbrochen und versucht das Problem mit der Klasse zu klären. So hätten die Schülerinnen und ich die Möglichkeit erhalten unser Verhalten zu ändern.
Der Grund, weshalb meine Aufmerksamkeit stets auf die 2 Jahre ältere Schülerin fällt, ist wohl bei meinen Erwartungen an sie zu suchen. Sie nimmt in der Klasse eine spezielle Stellung ein und ich meine sie dürfte ihre Rolle als erfahrenere und reifere junge Frau auch konsequenter übernehmen. Es gibt Tage, an denen ich voll auf sie als eine Art "Zugpferdchen" zählen kann. Dann gibt es aber auch Zeiten, in denen sie mit einer laschen Art eher das Gegenteil bei ihren Kolleginnen bewirkt. Ich weiss nicht ob sie sich dessen bewusst ist. Sollte ich wohl einmal mit ihr darüber sprechen?
Für mich stellt sich dabei grundsätzlich die Frage: Kann oder soll ich als Lehrperson an einer Lehrer/-innenausbildungsstätte von meinen Schüler/innen erwarten, dass sie ihre Rolle im speziellen Unterrichtsfach finden und schlussendlich auch übernehmen können?
Für mich als Unterrichtende ist dies eine Zielsetzung im Bereich der Personal- und Sozialkompetenzen. Sich selber kennenlernen, einschätzen können, wissen wie man auf andere wirkt und sich auch entsprechend in einer Gruppe eingliedern, sind wünschenswerte Fähigkeiten für zukünftige Lehrpersonen. Nun, wie lässt sich die Zielsetzung im Sportunterricht umsetzen? Ich denke mit speziellem Augenmerk auf das prozessorientierte Handeln und mit differenzierten auf das Individuum eingehende Unterrichtsformen kann sicher erfolgreich auf dieses Ziel hingearbeitet werden.